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10 Gründe warum „seriöse“ Softwarebranchen hinsichtlich User Experience noch etwas von Computerspielen lernen können – Teil 2

Günter Pellner
Günter Pellner
14. August 2013

In Teil 1 dieses Blogs haben wir festgestellt, dass der emotionale Faktor der User Experience (UX) für Computerspiele wichtiger als zielorientierte Funktionalität ist: Obwohl es ein effektiver und effizienter Weg zum Ziel wäre, gibt es keinen „Rette die Prinzessin“-Button am Anfang eines Mario Spiels. Bis zu einem gewissen Punkt, kann ein gutes UX Design von negativen und/oder nicht zu behebenden Interaktionsfehlern ablenken, was dazu führt, dass User die Software mehr „mögen“ als eine andere.

Des Weiteren wurde im ersten Teil die interdisziplinäre Zusammenstellung der Teams in Computerspiele-Firmen diskutiert. In diesem Zusammenhang haben wir aufgezeigt, dass die Produktionsabläufe Programmierer und Grafik Designer zwingen eng zusammenzuarbeiten. Design wird nicht als „Add-on“, sondern als essenzieller Teil, der das Produkt trägt, gesehen.

Der letzte Abschnitt war auf den Aspekt der geringen Budgets in der Spieleindustrie fokussiert. Rapid iterative testing and evaluation (RITE) hilft Fehler im User Interface (UI) schnell zu erkennen und zu beheben, was Geld und Zeit, die man für eine traditionelle Usability-Verbesserung ausgeben würde, spart.

In Teil 2 werden wir uns den Aspekten von imaginären Welten und der Verbindung zwischen Realität und Simulation widmen. Hiernach gehen wir auf die Techniken ein, welche in der Spielebranche genutzt werden, um Ladezeiten und, deutlich wichtiger, Wartezeiten zu verkürzen. Im letzten Teil vergleichen wir, wie seriöse Software und Computerspiele ihre Funktionalität dem Benutzer offenbaren. Um einen guten Einstieg in das Thema Gamification zu bekommen können Sie außerdem „Gamification als Designprozess“ von meinem Kollegen Jörg Niesenhaus lesen.

4) Spiele erschaffen imaginäre Welten. Moderne Technologie hilft Fantasie und die reale Welt zu kombinieren

Computerspiele funktionieren immer als geschlossenes System. Zu Anfang war dieses System auf einen statischen Screen, oder „Spielfeld“ reduziert. Durch die technologische Weiterentwicklung wurde dieses System größer und größer. Vom statischen schwarzen Hintergrund in Pong wuchs das „Spielfeld“ zu einer neuen Art von virtueller Welt (Ultima Online, World of Warcraft, Grand Theft Auto etc.).

Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass es technologische Versuche gibt diese virtuelle Welt mit der realen Welt zu verbinden. Augmented Reality (AR) ist vermutlich das bekannteste Beispiel dafür. In den meisten Fällen kombiniert AR Video- und Bilddaten miteinander. Durch Motion Tracking werden diese Bilddaten perspektivisch in die Videosequenzen eingebunden, so dass neue Videodaten entstehen, welche die Echtzeitvideodaten mit künstlichen 2D oder 3D-Inhalten anreichern.

AR wird oft in Filmen und Spielen benutzt, um futuristische Interfaces zu präsentieren. In Filmen müssen diese lediglich beeindrucken aussehen. In Spielen müssen sie allerdings auch benutzbar sein. Heutige mobile Geräte (Nintendo 3DS, Smartphones, Tablets etc.) können AR zur UX-Verbesserung in vielerlei Hinsicht nutzen. Das Spiel AR Defender ist ein gutes Beispiel dafür. Das Spiel nutzt die reale Umgebung als Spielfeld. Durch die Kamera im jeweiligen Gerät und AR können alle Objekte im Spiel in den Videostream der Kamera integriert werden. Dies lässt das Spiel, in Bezug auf die räumliche Navigation, welche durch das Gerät und die Einbindung der realen Objekte erfolgt, weitaus realistischer wirken. Somit wird das Spielgefühl deutlich verbessert.

AR Interfaces werden aber auch als In-Game-Interface benutzt. Das Spiel Dead Space nutzt ein simuliertes AR Interface anstelle von einem typischen HUD (Heads Up Display). Hierdurch wird das Interface zu 100% in die Spielwelt integriert, was es deutlich leichter macht in die Spielwelt einzutauchen.

Von dieser Technologie profitiert allerdings auch die Fertigungsindustrie. Da AR relativ neu ist und einen nicht unerheblichen Rechenaufwand beansprucht, ist es dort noch nicht weit verbreitet. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Integration von AR ist die Kuka Robot Group. Diese nutzt AR-Technologie zur Planung von Fabriken, Platzierung der Maschinenteile und Fehlerkorrektur.

Außerdem kann es bei der Unterstützung für den Aufbau und die Instandhaltung von komplexen Geräten und Vehikeln, wie z.B. Autos oder Hubschraubern, helfen. Durch mobile Geräte können z.B. fehlende Bauteile für den Arbeiter simuliert werden. AR wäre also in der Lage viele Aufgaben zu erleichtern und ungelernten Arbeitern ein effizienteres Arbeiten zu ermöglichen.
https://youtu.be/3e71CEQ-yFA
Die Möglichkeiten für diese Art von UI kann noch einen Schritt weiter gedacht werden. Wenn man sich vorstellt, dass diese Technologie künftig auch für eine neuere Generation von intelligenten Brillen (z.B. Google Glass) o.Ä. verfügbar ist, dann können futuristische Interfaces, die wir aus Spielen und Filmen kennen, eine alltägliche Hilfe für die fertigende und automatisierte Industrie werden.

5) Niemand wartet gern

Vor einigen Jahren war es für ein Programm noch völlig normal ein paar Minuten vor dem Start zu laden, was für den Nutzer oft sehr frustrierend war. Für Spieler war es in der Regel noch frustrierender, da der Flow massiv unterbrochen wurde, wenn ein neues Level oder ein neuer Bildschirmabschnitt geladen wurde. Zeitgemäße Spiele versuchen diese Ladezeiten zu eliminieren. Beispielsweise wird oft das nächste Level vorgeladen, während der Spieler sich noch im aktuellen Level befindet oder eine Videosequenz abgespielt wird.

Sogar der Installationsvorgang kann aufregend und unterhaltsam sein. Während der Installation von Starcraft 2 erfährt der Spieler die Geschichte des Vorgängers durch aufwendige Bildsequenzen und einen atmosphärischen Soundtrack. Dies kann den Spieler schon vor Beginn des eigentlichen Spieles in den Flow versetzen. Viele Spiele die über Steam vertrieben werden, können sogar während der Installation gespielt werden. Das ist möglich da zuerst alle Daten, welche für den Anfang des Spiels wichtig sind, heruntergeladen werden. Dadurch kann der Spieler schon ein paar Minuten nach dem Kauf das Spiel genießen.

Ein gutes Beispiel für die Verschleierung von Ladezeiten ist die „Türöffnungssequenz“ in den frühen Resident Evil Spielen. Jedes Mal wenn der Spieler einen neuen Raum betrat, wurde eine kurze Videosequenz von einer sich öffnenden Tür gezeigt, was Spannung- und Angstfaktor erhöhte und somit das Spiel allein durch die angepasste Ladesequenz noch gruseliger machte.

Leider ernten seriöse Anwendungen hier nur selten Lorbeeren. Viele Web/Smartphone/Tablet – Apps (Spiele mit eingeschlossen) nutzen Ladevorgänge, um Werbung einzublenden. Das erhöht die UX keinen Deut, aber man kann eine App somit einfach finanzieren. Diese Zeit ist also nicht völlig verschwendet und normalerweise akzeptieren Nutzer diese Art von Monetisierung, wenn sie für das Produkt nichts bezahlen müssen. Doch in vielen seriösen Anwendungen sieht man sehr oft, dass der Ladefortschritt dem Nutzer nicht einmal angezeigt wird, sodass Nutzer sich oft fragen, ob die Anwendung abgestürzt ist.

Software könnte effizienter und angenehmer sein, wenn Designer und Entwickler diese „Nebenzeit“ etwas effektiver nutzen würden. Auch wenn der Ladeprozess ein paar Sekunden länger dauert, wenn z.B. erst eine Videoanleitung geladen werden muss, um den eigentlichen Ladevorgang zu überbrücken, hält es doch den Nutzer im Flow. Wenn es dem Nutzer auch noch ermöglicht wird, während dieser Ladevorgänge etwas Produktives zu machen, ist es nicht mal ein Verlust von Arbeitszeit. Es ist also nicht immer nötig die echte Ladezeit zu verringern, wenn der Nutzer das Gefühl hat, dass die Ladezeit keine verschwendete Zeit ist, wird er diese Verzögerung akzeptieren. Und überhaupt: Es ist die „wahrgenommene Performanz“ die zählt, nicht die tatsächliche.

6) Zwing mich nicht das Handbuch zu lesen!

Normalerweise möchte niemand gerne ein Handbuch lesen, ein Seminar besuchen oder Lehrvideos schauen. Manchmal kann man dies nicht verhindern, doch oft ist es nur ein Mangel an richtigen Usability-Entscheidungen. Viele moderne Computerspiele zeigen, dass es möglich ist ein interaktives System zu designen was ohne zusätzliche Hilfe durch Handbücher, Hilfe-Dateien oder Seminare gemeistert werden kann. Wenn es gut gemacht ist, merken Spieler nicht mal, dass sie sich in einem Tutorial Level befinden, oder dass die Anwendung eine Hilfsfunktion ausführt, um dem Nutzer eine Funktion zu erklären.

Spiele wie Splinter Cell Conviction oder Stealth Bastards benutzen das Level selbst, um Spielemechaniken oder Aufgaben, welche der Spieler erledigen soll, zu erklären.

Die Einbindung dieser Funktionalität ist relativ einfach zu integrieren, aber extrem wertvoll. Wenn es gut gemacht ist, hält es den Spieler unbemerkt im Flow. Es ist einfach zu verstehen und einfach in das Umfeld der Anwendung zu integrieren.

Ein gutes „seriöses“ Beispiel hierfür ist Wiso Steuersoftware, eine Anwendung zur Erstellung der Einkommenssteuererklärung. Wiso führt den Nutzer Schritt für Schritt durch die jeweiligen Formulare und zeigt dazu einfach zu verstehende Text- und Videoerklärungen für fast jeden Bereich, sofern es der Nutzer denn wünscht.

Progressive disclosure ist eine weitere Methode, die nicht oft im seriösen Softwarebereich eingesetzt wird, die es aber deutlich vereinfacht eine Anwendung schneller zu verstehen. In Computerspielen bezieht sich das hauptsächlich auf die Reduzierung von Funktionen. Spiele führen Funktionalität in der Regel progressiv ein. Nachdem eine neue Funktion eingeführt wurde, wird getestet, ob der Spieler jede Einzelheit dieser Funktion verstanden hat. Wiedermals ist Starcraft (mit relativ viel Funktionalität) ein gutes Beispiel dafür. Das Spiel wäre nicht unterhaltsam für Spieler, welche neu in das Genre einsteigen, wenn diese im ersten Level mit der Option auf jedes Spielfeature starten. Stattdessen offenbart Starcraft die gesamte Funktionalität erst in den letzten Leveln, nachdem der Spieler schon bewiesen hat, dass er all diese Funktionen verstanden hat. Zusätzlich steigen Komplexität und Umfang der Funktionen nur stufenweise während des Spielverlaufs.

Leider berücksichtigen die meisten seriösen Anwendungen viele der genannten Kriterien nicht. Häufig werden alle Funktionen dem Nutzer regelrecht entgegen geworfen, was es unnötigerweise erschwert eine neue Anwendung zu verstehen. Die 3D-Grafikanwendung Maya von Autodesk hat viele lernbereite junge Grafikdesigner traumatisiert.

Da dies ein professionelles Programm für Power User ist, bringt es eine hohe Komplexität mit sich. Nutzer müssen komplizierte Aufgaben lösen, wofür sie eine große Palette an Funktionalität benötigen. Das Hauptproblem ist jedoch, dass die ganze Bandbreite an Funktionen jedem Nutzer von Anfang an gezeigt wird, obwohl niemand all diese benötigt, schon gar nicht zu jeder Zeit. So hat ein 3D Modeling Artist völlig andere Bedürfnisse als ein Lighting oder Animation Artist.

Das gegenteilige Beispiel hierfür liefert ein Serious Game namens Foldit. Das Ziel dieser Anwendung ist eine große Internet Community zu nutzen, um reale Probleme für die Wissenschaft zu lösen (crowdsourcing). Nutzer können 3D-Darstellungen von Aminosäuren falten und somit neue Proteine erstellen, was dann wiederum der Forschung hilft z.B. neue Medikamente zu entwickeln. Computer Algorithmen könnten diese Probleme auch lösen, nur wird dafür leider eine gewaltige Menge an Rechenleistung benötigt. Durch die Foldit-Community gab es 2008 einen enormen Durchbruch in der HIV-Forschung. Damals lösten Spieler in Foldit ein Problem innerhalb von zehn Tagen, was von Wissenschaftlern und Hochleistungsrechner in über zehn Jahren nicht zu lösen war.

Fazit

Die erfolgreiche Verbindung zwischen realer und virtueller Welt, ist ein Bereich der die seriöse Industrie momentan sehr interessiert und der bereits jetzt schon Früchte trägt. Des Weiteren scheint die Reduzierung von Komplexität und „Progressive Disclosure“ ein weiterer Punkt zu sein, der mittlerweile zwar in Überlegungen miteinbezogen wird, aber immer noch weit der Entwicklung in modernen Spielen hinterherhinkt. Ladezeiten zu überbrücken und Nutzer im Flow zu halten, auch wenn diese auf die jeweilige Hauptaufgabe warten müssen, ist ein Punkt an dem Spiele definitiv die seriöse Software übertreffen.

Verwandte Links

http://www.metaio.com/fileadmin/upload/documents/pdf/MAG-num3-engineer-EN.pdf

https://www.atlanticbt.com/blog/6-things-video-games-can-teach-us-about-web-usability

http://news.cnet.com/8301-27083_3-20108365-247/foldit-game-leads-to-aids-research-breakthrough/

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