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10 Gründe warum „seriöse“ Softwarebranchen hinsichtlich User Experience noch etwas von Computerspielen lernen können – Teil 1

Thomas Immich
Thomas Immich
31. März 2011

Computerspiele mit „seriösen“ Software Anwendungen zu vergleichen mag nach dem berühmten Apfel-Birne-Vergleich riechen, wenn man davon ausgeht, dass seriöse Anwendungen den Nutzern erlauben, produktiv Ziele im Arbeitsleben zu erreichen. Und tatsächlich: bezüglich ihrer Zielgruppen und dem Stellenwert der Produktivität vs. Spaß eingeräumt wird, könnten die beiden Branchen kaum weiter voneinander entfernt sein. Aus diesem Grund werden wir bei Centigrade (als „seriöse“ User Interface Design Agentur) oft gefragt, warum wir so eng mit der Spieleindustrie zusammenarbeiten, so dass wir sogar eine Geschäftsstelle in einem Gebäude haben, welches sonst ausschließlich von Computerspiele-Firmen genutzt wird.

Bei genauerer Betrachtung ist die Verbindung zwischen Computerspielen und industrieller Software viel offensichtlicher, als man auf den ersten Blick meinen mag. Um zusammenzufassen, warum wir glauben, dass Computerspiele positive Auswirkungen auf die User Experience (UX) von industriellen Software Anwendungen haben können, führt dieser drei-teilige Blog Artikel 10 Argumente an, die wir immer wieder in diesem Zusammenhang erläutern. Der erste Teil gibt eine allgemeine und prozess-orientierte Übersicht über das Thema. Der zweite Teil beleuchtet die Übertragbarkeit von ästhetischen und interaktiven Aspekten aus Spielen in seriöse Software und der dritte Teil wird einen Blick auf die Game Industrie als technischen Motor für Innovationen werfen – Innovationen die in andere Industrien übergeschwappt sind.

1) User Experience hat einen emotionalen Faktor – Spiele erinnern uns lebhaft daran

Zunächst einmal: Usability ist nicht gleich User Experience. Ich muss es in aller Deutlichkeit sagen, da die beiden Begriffe immer wieder verwechselt oder als austauschbar angesehen werden. Während aber Usability eine messbare Qualität hat – der Grad zu welchem ein interaktives System effizient, effektiv und zufriedenstellend von bestimmten Nutzern in einem bestimmten Kontext bedient werden kann, um damit bestimmte Ziele zu erreichen – ist der Begriff User Experience um einiges verschwommener. User Experience bringt eine nicht-zu-unterschätzende emotionale Komponente mit, für die Usability aufgrund der engineering-orientierten Vergangenheit nicht wirklich bekannt ist. Der Begriff User Experience legt nicht nur einen stärkeren Fokus auf ästhetische Aspekte wie Attraktivität und Joy of Use, er ist auch viel weiter gefasst und kann nicht nur auf die eigentliche Nutzung des Produktes, sondern auch auf alles um das Produkt herum angewendet werden – von der Verpackung bis zum Support Service.

Computer Spiele sind ein perfektes Beispiel, um den Unterschied anschaulicher zu machen. Nehmen wir ein Spiel, in dem die Steuerung eine enorme Herausforderung für den Spieler darstellt. Ein Ziel in einem solchen Spiel zu erreichen (z.B. ins nächste Level zu kommen) gestaltet sich als enorm ineffizient – und für Spieler, die das Spiel zum ersten Mal spielen zudem noch als ineffektiv. Ich überlasse es dem Leser, ob nun die Usability des Spiels als schlecht angesehen werden muss, obwohl die herausfordernde Steuerung im Grunde wohl überlegt ist. Mein Punkt ist, dass der Begriff User Experience an dieser Stelle einfach viel besser passt, da die User Experience positiv sein kann obwohl der Spieler ineffektiv und ineffizient in seiner Zielerreichung ist. Natürlich gilt das nur unter der Prämisse, dass das Spiel auch ästhetische Ansprüchen gerecht wird, wie z.B. mitreißende Soundtracks, schöne Grafiken und ein überzeugendes Gameplay. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird der Spieler lernen wollen, mit der Steuerung umzugehen, auch wenn sie eine Herausforderung darstellt.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Anwendungen in seriösen Industriezweigen die Nutzer mit Herausforderungen konfrontieren sollen (sie werden es sowieso tun, wenn sie einen gewissen Grad an Komplexität überschreiten). Wichtig ist, dass Computerspiele uns daran erinnern, dass User Experience mehr als Usability ist und schwer in Zahlen gepackt werden kann – und das ist gut so. User Experience hat sogar die Kraft negative Interaktionsaspekte, die aus welchen Gründen auch immer nicht zu beseitigen sind, abzuschwächen. Diesen Umstand zu verinnerlichen, führt zu einem viel breiteren Überlegungen bezüglich Design-Lösungen und resultiert letztendlich in Anwendungen die von Nutzern mehr gemocht werden als andere – ob dies nun objektiv messbar ist oder nicht.

2) Computerspiele erfordern es, dass Designer und Entwickler zusammenarbeiten – ohne sich die Köpfe einzuhauen

Machen wir uns nichts vor: Designer und Entwickler sind einfach nicht dafür geschaffen, reibungslos zusammenzuarbeiten – zumindest nicht ohne Zutun. Sie sind wie Öl und Wasser und brauchen einen Emulgator, um wirklich eine gute Mischung zu ergeben. Es ist die alte Geschichte über sich ausschließende Talente, über Ingenieurswesen und Künste, Rationalität und Kreativität, linker und rechter Gehirnhälfte.

In seriösen Software-Branchen, ist eine gute und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Designern und Entwicklern eher die Ausnahme – wenn überhaupt Designer involviert werden. Unglücklicherweise führt eine schlechte Designer-Entwickler-Kollaboration meistens auch zu einer verschlechterten User Experience, da die meisten Design Konzepte gar nicht erst bis zum Ende des Software-Entwicklungsprozesses überleben.

Und doch: in der Spiele-Industrie ist eine gute Designer-Entwickler Kollaboration Standard – und muss es auch sein. Andernfalls würde ein Spiel, welches immer auch technische und künstlerische Aspekte zu gleichen obligatorischen Anteilen vereint, gar nicht erst das Licht der Welt erblicken. Warum aber funktioniert es dort und was ist der Emulgator, der eine so gute Mischung aus Designern und Entwicklern macht?

In einem Computerspiel ist visuelles Design oder Motion Design kein Add-on. Diese Art von Design ist ein integraler Bestandteil des Produktes ohne das ein Spiel zum Scheitern verurteilt wäre. Jeder im Game-Entwicklungsteam weiß es. Design-Aktivitäten erfahren daher eine Menge Respekt, auch von Entwicklern. Der Mangel an Respekt für Design-Aktivitäten oder sogar der Zweifel an deren Daseinsberechtigung ist eine häufige Quelle von Problemen in seriösen Software-Branchen. Wenn aus funktionaler Sicht die Software auch ohne visuelles Design betrieben werden kann – wer braucht dann überhaupt ein Design dafür?

Auf der anderen Seite haben Designer in seriösen Industriezweigen oft eher weniger ausgeprägte Engineering-Skills. Aber anstatt sich deshalb in Demut zu üben, fragen sie sich, warum Entwickler einfach nie mit Designer-Arbeit zufrieden sind und immer nur irgendwelche Lücken in der Spezifikation entdecken, die dann – als wäre das alles nicht schon schlimm genug – in stümperhafter Manier von den Entwicklern mit deren kärglichem Design-Wissen gefüllt werden. Aber: es ist nicht die Schuld des Entwicklers, ungelöste Design-Probleme auszusprechen oder inkonsistente Design-„Lösungen“ in Frage zu stellen. Der Designer muss sich an seine eigene Nase packen, bevor er mit dem Finger auf den Entwickler zeigt. Software-Entwicklung ist schon schmerzhaft und schwierig genug, selbst wenn kein Design involviert ist – Designer sollten dies anerkennen. Obwohl ich zugegebenermaßen etwas harsche Worte wähle, lässt es sich wieder mal wieder auf das Wörtchen „Respekt“ zusammendampfen. Diesmal ist es nur andersherum.

In der Spieleindustrie, verfügen die meisten Designer über hinreichende Engineering-Skills, nicht zuletzt da sie mit sehr komplexen 3D-Grafik-Werzeugen wie 3ds Max oder Cinema 4D umgehen müssen. Sie müssen sich kontinuierlich mit design-fernen Fragen beschäftigen à la „Wie viele Polygone darf ich in meinem Modell verwenden, damit mein Game-Character nicht nur schön aussieht, sondern auch das Spiel als Ganzes flüssig läuft?“

Um es kurz zu machen: in der Spiele-Industrie kümmern sich Designer auch um Engineering-Aktivitäten und Entwickler kümmern sich um Design-Aktivitäten. Dieser gegenseitige Respekt ist das Schmiermittel für eine reibungslose Zusammenarbeit. Seriöse Software-Firmen können definitiv von dieser Einstellung lernen und profitieren – und im Endresultat mit einer positiveren User Experience aufwarten.

3) Spiele-Entwicklerstudios haben meistens kleine Budgets und einen sehr engen Zeitplan – trotzdem bewegen sie eine ganze Menge

Das Nummer 1 Argument von UX-agnostischen Software-Entwicklungsfirmen ist: „Wir können uns den Luxus nicht leisten einen externe UX Beratungsfirma oder sogar eine ganze Abteilung zu finanzieren, nur um unsere Software etwas benutzbarer zu machen!“ Nummer 2 ist: „Wir haben bereits einen verdammt engen Zeitplan. Wir können uns nicht auch noch diesen User Experience Kram aufhalsen!“

Auch wenn wir davon absehen, dass der Return on Invest einer Software sehr hoch sein kann, wenn UX solide im Unternehmen etabliert ist – im direkten Vergleich zwischen Spiele-Entwicklerstudios und seriösen Softwarefirmen wage ich zu behaupten, dass die Budgets in der Spiele-Branche um einiges kleiner und die Zeitpläne um einiges dichter sind, relativ zu dem was in einem Projekt gestemmt werden muss. Das hat sicherlich damit zu tun, dass Spiele-Designer und –Entwickler für Ihren Job brennen. Diese Leidenschaft führt zu einer Menge unbezahlter Überstunden, was zeitliche und finanzielle Engpässe natürlich in einigen Teilen kompensieren dürfte. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Spiele-Entwicklerstudios sind sehr clever, wenn es darum geht effizient zu sein – sie müssen es sein, um in einem publisher-diktierten Markt nicht mit Mann und Maus unterzugehen.

Nehmen wir zum Beispiel die RITE Methode. RITE steht für „Rapid Iterative Testing and Evaluation“ und ist eine iterative Usability Methode, die initial von Michael Medlock, Dennis Wixon, Bill Fulton und Mark Terrano (Microsoft Game Studios) vorgestellt wurde. Grob gesagt hat diese Methode Ähnlichkeiten mit dem von Jakob Nielsen geprägten „Discount“-Usability Engineering und enthält daher kostensenkende Elemente wie das Minimieren der Anzahl von Testteilnehmern oder den Einsatz „billiger“ Techniken wie der des „Lauten Denkens“.

Trotzdem unterscheidet sich RITE von traditionellen Usability Methoden darin, dass dort versucht wird, so schnell wie möglich zu sein. Defekte in der Benutzeroberfläche, die während des Tests entdeckt werden, werden auch direkt beseitigt – manchmal sogar wenn das Problem nur bei einem Testteilnehmer aufgetreten ist. Dieses Vorgehen ist sehr zeit- und kosteneffektiv, denn oft genug existieren Probleme, für die ganz offenkundig bessere Lösungen existieren, die zudem auch noch einfach anzuwenden sind. Wenn z.B. beim ersten Probanden festgestellt wird, das ein Text auf der Benutzeroberfläche schlecht benannt ist, warum sollte man den Test mit 5 weiteren Probanden durchführen, wenn der gesunde Menschenverstand einem sagt: „Dieser schlecht formulierte Text wird definitiv auch ein Problem für andere Probanden darstellen“?

Clever und pragmatisch zu sein, wenn es um das Aufdecken von Usability Problemen geht und Iterationszyklen kurz und zahlreich zu halten ist sicherlich ein weiterer Punkt, den seriöse Software-Entwicklungsfirmen lernen sollten. Und anscheinend haben manche von ihnen das bereits getan: seit der offiziellen Definition von RITE hat es sich stark auf Industriezweige jenseits der Spielbranche ausgedehnt.

Im nächsten Teil dieses Blog Artikels werden wir etwas tiefer in die ästhetischen Aspekte von User Experience eintauchen und etwas Licht ins Dunkel bringen, wenn es um die Frage geht, warum die Spieleindustrie hier eine Vorreiterrolle übernimmt, die definitiv Aufmerksamkeit von den seriösen Industriezweigen erfahren sollte.

Verwandte Links

http://en.wikipedia.org/wiki/ISO_9241

http://www.useit.com/papers/web_discount_usability.html

http://en.wikipedia.org/wiki/RITE_Method

http://www.slideshare.net/stephenpa/long-after-the-thrill-sustaining-passionate-users-sxsw-version

http://www.lukew.com/ff/entry.asp?324

http://www.slideshare.net/dings/just-add-points-what-ux-can-and-cannot-learn-from-games

http://www.acagamic.com/specials/advent-2009/13-gaming-it-what-user-experience-designers-can-learn-from-game-designers/


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