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Was uns der Alltag über UX lehrt oder wie ich lernte, die (digitale) Welt mit anderen Augen zu sehen

Saskia Hehl
Saskia Hehl
30. August 2018

Erinnern Sie sich noch, als Ihnen zum ersten Mal bewusst wurde, dass es so etwas wie User Experience gibt? Vermutlich nicht. Mir zumindest ist erst im Nachhinein klar geworden, dass ich bereits in jungen Jahren unter schlechter UX gelitten habe. Und ich wette, Sie auch. Ich erinnere mich an große Kämpfe mit meinen Familienmitgliedern: In der Zeit, bevor jeder Haushalt eine obligatorische Internet Flatrate hatte, musste man das eigene Recht aufs Internet noch ganz anders erstreiten als heutzutage. Kaum hatte man es geschafft, sich 10 Minuten kostbare Surfzeit zu ergattern, schon brüllten die Geschwister ins Computerzimmer, dass sie nun unbedingt das wichtigste Telefonat ihres Lebens führen müssten. Fürs Telefonieren raus aus dem Internet – das war definitiv eine richtig miese UX. Ich erinnere mich, wie ernüchtert ich war: Wie kann so eine coole neue Errungenschaft wie das Internet teilweise so überhaupt keine Freude machen?25 Jahre später bin ich zunächst als Fachfremde bei einem Unternehmen angekommen, in dem sich ständig die Frage nach einem gelungenen Nutzererlebnis gestellt wird. Hier wird UX gelebt und obwohl ich anfangs wenig mit den Begrifflichkeiten anfangen konnte und jeder Tag neue Erkenntnisse gebracht hat, ist auch schnell das Verständnis gereift, dass UX gar nichts Fremdes ist und dass sich das, was meine Kollegen im Projektgeschäft umsetzen, auch in meinem Alltagsleben wiederfindet.

Keine UX ohne Kontext

Ist Ihnen schon mal passiert, dass Sie einen Film mehrmals geschaut haben und ein Mal davon gar nicht so viel Spaß gemacht hat? Beim ersten Mal schauen Sie den Film in einem großen Kinosaal mit exzellenter Soundqualität. Mit Ihnen im Saal sitzen einige wenige andere Filmfans, die leise in ihren Popcorntüten rascheln. Die Stimmung ist von angespannter Vorfreude.

Cut.

Der gleiche Film in einem ranzigen Kinosaal, bei dessen Betreten die Füße in Limonadenpfützen kleben bleiben und Sie neben einer Horde pubertierender Teenager sitzen müssen, die nicht nur unanständig laut ihre Chipsladungen vertilgen, sondern auch noch jedes zweite Filmzitat kommentieren. Es wird unmöglich, das Produkt alleine für sich zu betrachten, weil es niemals aus den Kontexten losgelöst werden kann, in denen man damit interagiert.

„Das Produkt kann augenscheinlich perfekt sein – eine gute UX hingegen entsteht nur im richtigen Kontext.“

 

Daher arbeiten die Kollegen mit Szenarios und greifen sich kleine Nutzungskontexte heraus, für die ein Produkt relevant ist. Anschließend wird das Produkt für genau diesen Kontext optimiert und verbessert. So laufen sie nicht Gefahr, Interaktionen zu fokussieren, die für den Nutzer eigentlich gar nicht relevant sind.

Wer bedient hier eigentlich wen?

Ein anderes Beispiel: Hatten Sie schon mal das Gefühl, als führe eine Maschine oder ein Gerät, was Sie bedienten, ein Eigenleben? Ein trotziges, undurchdringliches Wesen, das all Ihren Bemühungen entgegentritt und Sie wieder und wieder davon abhält, Ihr Ziel zu erreichen? Fahrkartenautomaten führen häufig dieses Eigenleben. Sie sind manchmal so widerspenstig, dass Sie Ihren Zug verpassen oder mutwillig Schwarzfahrer werden müssen.

Quelle: Wikipedia

Oftmals haben wir nicht mehr das Gefühl, von der Technik unterstützt zu werden. Stattdessen ärgern wir uns, weil wir sie nur unzureichend bedienen können. Wir fragen uns: „Bin ich zu blöd?“. Nein. Gute UX entsteht nicht daraus, dass der Nutzer herausfindet, wie man eine Maschine oder ein Interface bedient.

„Allein die Wortwahl ist irreführend: Wir sollten nicht Maschinen ‚bedienen’ wie ein Kellner seine Gäste, denn Technologie wird geschaffen, um uns zu unterstützen. Wenn überhaupt, dann sollten technische Geräte uns bedienen, nicht andersherum.“

 

Gute UX entsteht dann, wenn mich das Interface vor keine Herausforderungen stellt und es keine Hürde zwischen Nutzer und Endergebnis, sondern ein intuitives Medium darstellt. Dann tritt Kompetenzerleben und Freude an die Stelle von Frustration und Ratlosigkeit. Wir müssen es nicht hinnehmen, dass wir beherrscht werden. Wir dürfen eine gute UX fordern.

Der Nutzer ist nicht das Problem. Aber er sollte es sein.

Wir müssen also nicht länger davon ausgehen, dass wir das Problem sind, weil wir die Nutzung nicht beherrschen. Aber wir sollten vielmehr als Problem wahrgenommen werden, noch bevor ein Produkt zur Umsetzung geführt wird. Auch das wird mir im Alltag immer wieder bewusst. Erst kürzlich stand ich mehrere Sekunden vor einem Waschbecken, fuchtelte mit eingeseiften Händen vor dem Sensor an der Armatur herum und fragte mich, weshalb ich den richtigen Punkt einfach nicht traf. Ich beugte mich also unter die Armatur und sah, dass der Sensor direkt unter dem Hahn saß und man die Hände höher und direkt darunter halten musste. Das tat ich dann auch, das Wasser lief. Doch sobald ich die Hände vom Sensor nahm und sie unter den Strahl halten wollte, wurde der Wasserfluss unterbrochen. Ich musste meine Hände also tatsächlich einhändig und nacheinander waschen. Und hier soll ich das Problem sein?

 

Offenbar kann bei der Badgestaltung UX nicht intensiv genug gedacht werden:

Noch ein schönes Alltagsbeispiel: Kennen Sie auch diese Personen, denen Sie zuhören und sich die ganze Zeit fragen, weshalb Sie eigentlich nur einen Bruchteil dessen verstehen, was Ihr Gegenüber Ihnen zu sagen versucht? Haben Sie in diesen Situationen gefragt, ob das Problem bei Ihnen liegt, dass Sie dem Gespräch nicht richtig folgen können? Die Experience in diesem Gespräch ist für Sie in jedem Fall sehr negativ. Aber auch hier gilt: Nicht Sie sind das Problem. Ihr Gegenüber beherrscht es einfach nicht, seinen Gesprächspartner zu berücksichtigen und von seinem Ross hinabzusteigen, um eine ganz normale Konversation zu führen, bei der nicht jedes zweite Wort anschließend nachgeschlagen werden muss. Eine gute UX ist abhängig von demjenigen, der sie erfährt und sollte daher immer auch ihn im Fokus haben.

Klein denken hilft zu fokussieren – und somit dem Nutzer

Seit Kurzem bin ich stolzer Besitzer eines eigenen Hauses. Aus einem Bau mit gewissen Mängeln sollte in kürzester Zeit ein schönes Zuhause werden. Also schmiedeten wir Pläne. Fingen an, hier eine Mauer einzureißen und dort die Fliesen abzuschlagen. Nach einer Weile hatten wir ungefähr fünf Plätze, die sich gleichzeitig im Aufbau befanden – und waren überfordert. Der Aufbau schien sich endlos in die Länge zu ziehen, alles ging langsam voran, nichts wurde fertig.

Bis wir sagten: Stopp. Alle Arbeiten hielten an und wir begannen, uns mit dem wichtigsten Raum zu beschäftigen und ihn fertigzustellen. Dann erst widmeten wir uns dem nächsten Raum. Wir besannen uns auf eine zentrale Eigenschaft eines jeden UX Prozesses: Dem Denken in kleinen Einheiten, die für sich genommen einen Mehrwert bieten. Genau das bewahrt davor, die Nutzerbedürfnisse (also in diesem Fall unsere eigenen Bedürfnisse) aus den Augen zu verlieren.

Priorisieren

Oftmals hat man auch im Umgang mit Produkten und Tools den Eindruck, dass nicht richtig priorisiert wurde, sondern ein auf Jahre hinaus gedachter Masterplan zugrunde liegt, der einfach alles abdecken möchte – und durch den totalitären Anspruch auf Vollständigkeit ins Gegenteil umschlägt. So werden erst die Entwickler überfordert und letztlich die Nutzer unglücklich.

Reflektieren über UX ist Reflektieren über mich selbst

Wir interagieren ständig. Mit Menschen. Mit Maschinen. Mit unserer Umwelt. Und aus jeder Interaktion folgt eine Reaktion. Nicht immer machen wir uns diese Reaktionen aktiv bewusst, doch sie schlagen sich in unseren Empfindungen nieder und lassen uns mit einer guten oder schlechten Erfahrung aus den Interaktionen heraustreten. Und da wir alle ein Stück weit Hedonisten sind, suchen wir ständig nach positiven Erlebnissen, die uns glücklich, zufrieden oder effektiver machen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, doch hat mich das Beschäftigen mit UX dazu geführt, dass ich eben aktiver versuche, meine Reaktionen und mein Empfinden auf eine Interaktion zu reflektieren.

„Ich habe gelernt, dass ich kompromisslos sein darf und mich nicht mehr mit Produkten beschäftigen muss, die mich nicht zufrieden stellen.“

 

Denn es gibt lernbare Strategien, wie Produkte für ihre Nutzer eine positive UX bereithalten können. Ich beanspruche für mich als Nutzer das Recht, bei der Produktentwicklung im Fokus zu stehen. Und nachdem ich einige Zeit in unserem Unternehmen zugebracht habe, bin ich nun als Knowledge Manager der Centigrade UX Academy in der Position, auch andere Unternehmen beim Aneignen von nutzerzentrierten Methoden und dem Erschaffen von Produkten mit begeisternder UX zu unterstützen. So kann ich selbst einen Beitrag leisten, dass die Nutzung von Produkten nicht Frust auslöst – wie das Blockieren der Telefonleitung beim Surfen– sondern Freude und Kompetenzerleben.

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