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„Project Scoping“ oder wie man Projekte RICHTIG startet

Project Scoping Workshop

Prolog

Szenario 1 – Die eierlegende Wollmilchsau

Montagmorgen, 08:30, ein Meeting-Raum irgendwo im dritten Stock eines Bürokomplexes. Am Tisch: mehrere Entwickler, Projektleiter, Marketingvertreter und zwei UX-Spezialisten. Das Budget für die nächsten drei Monate ist gesichert. Ziel des Workshops ist es, die ersten Arbeitspakete für einen langfristigen Plan zu schnüren, um ihre komplette Software zu überarbeiten und nutzerfreundlicher zu gestalten. Während des Workshops stellt sich heraus, dass es insgesamt vier Arbeitspakete gibt, wobei jede anwesende Projektleiterin davon ausgeht, dass ihr Paket Priorität hat. Es entsteht ein längerer Streit, in Folge dessen beschlossen wird, alle Pakete gleichzeitig anzugehen. Nachdem die ersten Budgets aufgebraucht sind, ist die Enttäuschung groß – nichts ist fertig geworden, kein Fortschritt im Vergleich zum Status Quo ist zu erkennen. Das Projekt wird daher gestoppt und in die ungewisse Zukunft vertagt.

Szenario 2 – Die Geheimentwicklung

Dienstagnachmittag, 14:30, das Büro der Geschäftsleitung. Anwesend sind neben drei engen Vertrauten der Geschäftsleitung der Leiter des Entwicklungsteams und zwei Vertreter einer externen UX-Agentur. Geplant wird die Neuentwicklung einer Software über die nächsten beiden Jahre. Man ist sich sicher: Die Software wird ein durchschlagender Erfolg. Deshalb wurde das Budget für die komplette Entwicklung bereits zugesichert. Die Software wird in-house entwickelt und nach zwei Jahren wird eine gestalterisch anspruchsvolle, mit internen Mitarbeitern ausgiebig getestete und für gut befundene Software auf den Markt gebracht. Die potentiellen Kunden wussten bisher nichts von der Neuentwicklung, da man nicht wollte, dass vor Release etwas über das innovative Produkt bekannt wird.

Ein Jahr später: Die Software ist mittlerweile zwölf Monate am Markt, aber wurde bisher nur ein einziges Mal verkauft – und das an ein Tochterunternehmen. Zwei Jahre Entwicklung sind damit umsonst gewesen. Die UX-Agentur wird aus dem Projekt entfernt, da es offenbar nicht gelungen ist, ein für die potentiellen Benutzer ausreichend spannendes Erlebnis zu bieten.

Projekte wie diese beiden überspitzt skizzierten gibt es wie Sand am Meer. Ein motivierter Projektstart, ein tolles Team – und am Ende der große Frust, den niemand so wirklich herleiten kann. Doch woran liegt das? Was kann man tun, um solche Frustsituationen und vor allem Geldgräber zu vermeiden?

Ursachensuche

Betrachtet man beide Szenarien im Nachhinein, stellt man fest: Die aufgetretenen Probleme hätten tatsächlich vermieden werden können. Schauen wir uns beide Beispiele und die Ursachen ihrer jeweiligen Frustration noch einmal an:

Szenario 1

Es wurden viele Fäden aufgegriffen, jedoch keiner zu Ende verfolgt. Man hatte für jedes Problem anscheinend eine grobe Lösungsvorstellung, jedoch konnte niemand WIRKLICH eines der Probleme im Detail lösen, da sich hinter der verlockenden Fassade der Lösungsskizze nur ein leerer Raum mit einem großen “ToDo“-Schild befand.

Szenario 2

Eigentlich wurde doch alles richtig gemacht: Designs wurden entworfen, getestet und umgesetzt, spezifiziert, … und das umsonst, denn dem Produkt fehlte ein starker Business Case, wodurch es sich nicht verkaufen ließ. Offenbar wurde ein Problem gelöst, welches nicht existierte.

Was haben diese Projekte gemeinsam? Ganz einfach – im Nachhinein betrachtet hätte man diesen Frust durch saubere Vorarbeit noch vor Beginn der ersten Arbeiten vermeiden können.

Phasen eines Project Scoping Workshops

Der Project Scoping Workshop

Der Schlüssel liegt also in der Projektvorbereitung und -definition. Was ist unser Projekt? Worum geht es, welches Problem löst unser Produkt? Für wen ist es gedacht? An wen verkaufen wir überhaupt?

Um diese Fragen zu beantworten, hat sich in unserem Continuous UX Prozess der „Project Scoping Workshop“ als effektiver Projektstart etabliert. Ziel des Workshops ist es, alle produktrelevanten Perspektiven an einem Tisch zu versammeln und gemeinsam eine Projektdefinition zu erarbeiten, auf die sich alle anwesenden Stakeholder committen können. Hierbei gilt es, folgende Aufgaben zu meistern:

  1. Stelle deine Workshop-Teilnehmer zusammen!
  2. Fokussiere dich auf Probleme, nicht auf Lösungen!
  3. Finde einen starken Business Case!
  4. Sammele alle Stakeholder!
  5. Modelliere eine Persona!
  6. Schreibe ein Szenario!
  7. Formuliere ein Produktstatement!
  8. Überprüfe deine Annahmen!

Klingt nach einer Menge Arbeit? Ja, schon. Aber in erster Linie erfordert das Vorgehen etwas Disziplin. Jeder einzelne Punkt kann innerhalb von 1-2 Stunden bearbeitet werden. Denken wir zum Vergleich noch mal an Szenario 2 und die zwei Jahre Entwicklungszeit zurück – DAS war eine Menge Arbeit, allerdings ohne Ergebnis. Dagegen sind ein paar Stunden wenig. Schauen wir uns die Aufgaben einmal im Detail an.

1. Stelle deine Workshop-Teilnehmer zusammen!

Natürlich könntest du es dir einfach machen und nur die Personen an den Tisch holen, die das gleiche Projektverständnis wie du haben – aber helfen dir diese Kollegen wirklich, neue Perspektiven zu finden?

Versuche daher, eine möglichst breite Teilnehmergruppe zusammenzustellen. Reibungen und Konflikte sind bereits vorprogrammiert? Umso besser, dann könnt ihr die aus dem Weg räumen, bevor es zur teuren Projektarbeit kommt.

Versuche beim Zusammenstellen der Teilnehmer folgende Rollen einzubeziehen:

  • (Managing) Director (für die Businessperspektive)
  • Product Manager oder PO (für die Kundenperspektive)
  • Marketing oder Sales Manager (für die Vertriebsperspektive)
  • 1st Level Support oder Training (für die Nutzerperspektive)
  • Software Engineer (für die technische Perspektive)

Tipp: Bisher haben sich 6-7 Teilnehmer als eine gute Zahl herausgestellt. Mehr Teilnehmer führen meist zu langwierigen Diskussionen, die auf Grund der vielen verschiedenen Meinungen sehr schwer zu moderieren sind. Weniger Teilnehmer hingegen führen zu einer „Verwässerung“ des Ergebnisses, da sich individuelle Meinungen zu stark durchsetzen können.

Problemraum und Lösungsraum beim Project Scoping Workshop

2. Fokussiere dich auf Probleme, nicht auf Lösungen!

Die schwierigste Aufgabe direkt zu Beginn: Versuche, alle Lösungen für eine Weile zu vergessen und dich zusammen mit deinem Team allein auf reale Probleme realer Nutzer zu konzentrieren. Es werden immer Teammitglieder am Tisch sitzen, welche bereits ein genaues Bild der späteren Lösung vor Augen haben. Versuche, sie zu überzeugen, diese Lösungen für eine Weile beiseite zu stellen, denn unser einziges Ziel im Project Scoping Workshop ist es, herauszufinden, welche Bedürfnisse wir bei den späteren Nutzern des Produkts zu erfüllen versuchen. Das WARUM zu klären ist also das Ziel, nicht das WIE.

Tipp: Achte auf Formulierungen wie: „Der Nutzer möchte Feature XY haben“. Dahinter verbirgt sich der (meist unbewusste) Versuch, eine Lösung als Bedürfnis zu formulieren. Das zugrunde liegende Bedürfnis ist oft real, muss jedoch grundlegender formuliert werden. Mache den Teilnehmern des Workshops klar: Jedes Feature, dass kein Nutzerbedürfnis erfüllt, ist für uns nicht relevant!

3. Finde einen starken Business Case!

Wir haben es im Szenario 2 gesehen: Ein Projekt kann in der Durchführung noch sauber ablaufen – wenn es sich nicht verkauft, war im Zweifelsfall alle Arbeit umsonst. Finde daher heraus, wo derzeitige Businessprobleme oder -Gelegenheiten liegen und definiere gemeinsam mit deinem Team ein möglichst stark darauf fokussiertes Ziel. Auch hier gilt nach wie vor: WIE ihr euer Ziel erreichen wollt, ist erst einmal sekundär, es geht hier darum, WAS ihr erreichen möchtet.

Tipp: Setzt euch nicht nur ein Ziel, sondern auch ein messbares Kriterium, anhand dessen ihr mit Ende des Projektes prüfen könnt, ob ihr wirklich erfolgreich wart. In unserem zweiten Szenario wären dies zum Beispiel möglicherweise Verkaufszahlen gewesen.

4. Sammele alle Stakeholder!

Der Erfolg eines Produkts hängt nicht ausschließlich vom späteren Benutzer ab – es gibt deutlich mehr Stakeholder, die im Produktzyklus eine Rolle spielen. Angefangen von der Person, die entscheidet, euer Produkt zu kaufen, bis hin zum Servicemitarbeiter – sammele alle Stakeholder, die mit eurem späteren Produkt in Berührung kommen oder ein Interesse an dessen Erfolg haben könnten. Danach lege mit deinem Team fest, welchen dieser Stakeholder ihr primär bedienen müsst, um euer zuvor gesetztes Businessziel zu erreichen.

Tipp: Der Abgleich mit dem Businessziel führt dazu, dass vermeintlich wichtige Stakeholder plötzlich Priorität verlieren. So ist es bei einer Messedemo vielleicht geschickt, ein UI zu bauen, welches sich komplett an die Bedürfnisse eines Messebesuchers bzw. Entscheiders anpasst und nicht an die eines späteren Endnutzers.

Persona Poster

5. Modelliere eine Persona!

Mit dem Businessziel und den Stakeholdern in der Tasche wird es konkreter. Nehmt euch den für den Business Case relevantesten Stakeholder vor und modelliert für dessen Rolle eine Persona. Um sich später im Designprozess besser in eure Persona hineinversetzen zu können, versuche möglichst detailreich zu arbeiten, denn so werden Emotionen und Empathie geweckt.

Tipp: Redet im Folgenden von eurer Persona immer mit ihrem Namen, nicht von „der Persona“ oder „dem Bediener“. Ihr werdet merken, dass euer Team sich deutlich besser in die Haut eurer Persona hineinversetzen kann, wenn der Name jedem ein Begriff ist. Druckt die Persona aus und hängt sie an die Wände eurer Räume, um sie über den gesamten Projektverlauf hinweg lebendig und präsent zu halten. Hier entwickeln wir mit dem LeanScope ein Persona-Tool, mit dem ihr in Minuten ein druckfähiges Persona-Poster erstellen könnt.

Jetzt Personas erstellen

 

6. Schreibe ein Szenario!

Nun wird es noch konkreter. Schreibe mit deinem Team ein Nutzungsszenario („Context of Use“), in welchem die Persona mit den vorher definierten Problemen in Berührung kommt. Versuche dabei möglichst detailreich zu arbeiten, denn nur so könnt ihr die Probleme und Bedürfnisse eures Protagonisten verstehen und euch in die Story hineinversetzen. Auch hier – werdet gerne emotional, aber übertreibt es nicht.

Tipp: Wenn du möchtest, kannst du das Szenario parallel auch mitscribbeln. Das sorgt oft für gute Stimmung und hilft, Details zu finden, auf die man sonst niemals gekommen wäre.

Produktstatement

7. Formuliere ein Produktstatement!

Ihr habt es geschafft! Ihr wisst nun, wen ihr in welcher Rolle und in welchem Kontext glücklich machen müsst und welches Ziel ihr hiermit erreichen wollt. Wenn wir an unser Szenario 1 (Eierlegende Wollmilchsau) zurückdenken, lag genau hier das Problem. Es gab keine Persona, kein wichtigstes Geschäftsziel und erst recht kein Nutzungsszenario, welches die Interaktion der Persona mit dem aktuellen System beschreibt. Genau betrachtet wurden eigentlich nur Überschriften von möglichen Szenarien gesammelt, ohne jedoch in ein einziges detailliert hineinzuschauen. Fasst am Ende eures Workshops die Quintessenz dessen, was ihr erreicht habt, noch einmal in einem griffigen Satz zusammen: das „Produktstatement“, auf dass sich alle Teilnehmer committen können. Nach wie vor solltet ihr Lösungen ausklammern – beschreibt einfach nur, wen ihr beim Erreichen welches Zieles unterstützen wollt. Ein Beispiel könnte so aussehen:

Mit Abschluss des Pilotprojekts im Juli 2019 wird Manfred der Maschinenbediener vom HMI dabei unterstützt, die Werte des Datenblattes fehlerfrei in das System zu übertragen, um Produktionsfehler zu vermeiden.

Tipp: Das abschließende Statement ist eine Zusammenfassung der vorhergegangenen Schritte. Lasst es jedoch keinesfalls aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel weg, da es sämtliche Erkenntnisse eures Workshops bündelt. Ihr habt hier die einzigartige Möglichkeit, alle Teammitglieder auf ein gemeinsames Ziel, formuliert in einem griffigen Satz, einzuschwören.

8. Überprüfe deine Annahmen!

Kaum ein Szenario spielt sich genau in dem Raum und mit den Personen ab, die beim Project Scoping Workshop teilnehmen. Du wirst also mit deinem Team Entscheidungen und Annahmen über Persona und Szenario treffen, die im Nachgang verifiziert werden müssen – denn was bringt die beste Zielsetzung und Modellierung, wenn die Realität ganz anders aussieht? Überprüfe also im nach dem Scoping:

  • Den Business Case mit einem Vertreter der Business-Sicht, falls beim Workshop keine entsprechende Person anwesend war.
  • Persona und Szenario mit mindestens einem Anwenderbesuch.

Tipp: Warte nicht mit der Überprüfung. Versucht, euer Projekt erst nach der Verifizierung zu starten, um auf eventuelle Änderungen am Projektkurs vorbereitet zu sein.

Project Scoping Workshop Ergebnisse

Zusammenfassung

Es kann und wird immer passieren, dass es im Projektverlauf unvorhergesehene Schwierigkeiten, Kursänderungen oder sogar Projektstopps gibt. Mit einer sauberen Vorbereitung in einem Project Scoping Workshop lassen sich jedoch die Risiken für einen Totalausfall auf ein absolutes Minimum reduzieren, da das Projekt auf stabilem Boden gestartet wird.

Finde die richtigen Teilnehmer!

  • Ein Schmusekurs hilft niemandem!
  • Ein Project Scoping Workshop ist teuer, aber deutlich günstiger als ein komplettes Projekt ohne Ergebnis – siehe die einleitenden Beispiel-Szenarien Eierlegende Wollmilchsau und Geheimentwicklung.

Fokussiere dich auf Probleme!

  • Lösungen vereinnahmen dich zu sehr und blockieren die Entstehung neuer Ideen.
  • Nur wenn man die Probleme kennt, kann man passende Lösungen gestalten!

Finde einen starken Business Case!

  • Das tollste Produkt hilft niemandem, wenn es nicht auf einem soliden Business-Fundament ruht – das fehlte im Szenario Geheimentwicklung

Sammele alle Stakeholder!

  • Durch das Sammeln ALLER Stakeholder, die Interesse an deinem Produkt haben könnten, ergeben sich oft interessante neue Ideen.

Modelliere eine Persona!

  • Erwecke die fiktive Person zum Leben!
  • Viel persönliche Informationen helfen, sich später mit der Persona besser identifizieren zu können

Schreibe ein Szenario!

  • Menschen lieben Geschichten!
  • Reichere deine Story mit vielen Details an, so kommt man oft zu neuen Erkenntnissen, Nutzerbedürfnissen und Ideen.

Formuliere ein Produktstatement

  • Halte dein Ergebnis einfach – ein unverständliches Statement hilft niemand.
  • Schwöre das Team auf ein gemeinsames Ziel ein!

Überprüfe deine Annahmen

  • Vom Business Case bis hin zu den Details des Szenarios – überprüfe möglichst alle getroffenen Annahmen, um das Projektrisiko zu minimieren – was im Szenario Geheimentwicklung fehlte.

Detaillierteres Wissen zu Durchführung, Moderation und Form des Project Scoping Workshops vermitteln wir bei Interesse auch in unseren UX Academy Schulungen.

 

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