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User Interface Architectures – vier Gemeinsamkeiten von Architektur und Interface Design

Jonas Stallmeister
31. Mai 2012

Als ich zu Centigrade stieß, fragte ich mich, warum eigentlich der Zusatz „User Interface Architectures“  im Firmennamen steht. Neue Begriffe sind in dieser Branche nicht überraschend; die Fachsprache ist jung und verändert sich schnell, viele versuchen, sie mit eigenen Begriffen und Definitionen zu prägen. Aber ich wunderte mich, warum gerade Architektur dort auftaucht, und vielleicht ging es Ihnen auch so.

Die kurze, vordergründige Antwort: Aufmerksamkeit. Dass man an dieser Zeile hängenbleibt ist intendiert. Natürlich soll sie auffallen, Assoziationen wecken und Centigrade differenzieren.

Trotzdem ist „User Interface Architectures“ keine Worthülse, und das bringt uns zur langen, tiefgründigeren Antwort. Dieser Begriff beschreibt unsere Arbeit nach außen präzise und anschaulich. Wir müssen immer damit rechnen, dass Kunden, Benutzer und externe Dienstleister keine genaue Vorstellung von unserer Arbeit haben. Indem wir unsere Leistung mit traditioneller Architektur vergleichen, helfen wir ihnen einen Zugang zu finden.  Dagegen sind wir und andere Interface Designer vertraut mit den Aufgaben, Prozessen und Ergebnissen. Wenn wir aber das Gefühl bekommen, betriebsblind zu werden, kann uns der Vergleich zur traditioneller Architektur und zur Arbeit von traditionellen Architekten neue Ideen und neuen Antrieb geben. Intern ist „User Interface Architectures“ ein Anstoß, unsere Arbeitsweise zu überdenken und in einem breiteren Kontext zu sehen. An vier Gemeinsamkeiten mit der traditionellen Architektur zeigen wir in diesem Artikel, wie der Vergleich zur Architektur nach außen und innen wirken kann.

1 – Beständigkeit

Die meisten User Interfaces werden für jahrelange Benutzung gestaltet. Um Kunden diese Langfristigkeit und Beständigkeit zu verdeutlichen, hilft die Assoziation zur traditionellen Architektur. Zwar werden Bauwerke viel länger, Jahrzehnte oder Jahrhunderte genutzt, aber Interfaces sind länger haltbar als andere typischen Designbereichen wie Werbung, Zeitschriften, Verpackung oder Mode. Auch in fünf Jahren wollen Benutzer ihre Aufgaben effektiv, effizient und elegant lösen können. Dafür müssen wir die nutzungsbezogene, ästhetische und technische Entwicklung bei unserer Arbeit im Blick haben, und genau das deutet „User Interface Architectures“ an.

Nutzen macht beständig

Wir fühlen uns nicht eingeschränkt davon, vorauszudenken – im Gegenteil, wir gestalten ausgesprochen gerne für die Zukunft. Wie hilfreich diese Perspektive ist, zeigt das populärste Beispiel für gute User Experience: Apple. Natürlich hing der Erfolg des iPhones von vielen Dingen ab, aber einer war sicher Bewusstsein für gute User Experience. Es war  revolutionär, als Steve Jobs es vorstellte, heute ist es der alltägliche Standard, den auch kleine Kinder bis zu einem gewissen Punkt beherrschen. Um dieses wunderbare Ergebnis zu erreichen, haben die Designer von Anfang an darauf geachtet, dass die revolutionäre Technik den Benutzern täglich hilft, Probleme zu lösen. Sonst wäre die Neuerung von den Käufern schnell als Ablenkung, Störung oder Hindernis abgelehnt worden. Auch wir prüfen unsere Arbeit ständig, damit Aussehen, Animationen und Interaktionsverhalten den Benutzern helfen. Wenn uns das gelingt, steigt die Chance, dass das Ergebnis auch in einigen Jahren noch wertvoll sein wird.

2 – Koordination

Jeder, der die Arbeit an einem User Interface kennt, weiß, dass sie das Wissen, die Erfahrung und die Zusammenarbeit vieler Spezialisten erfordert. Aber auch Menschen, die zum ersten Mal den Begriff User Interface hören, sind mit dieser Arbeitsweise eigentlich schon vertraut: aus der traditionellen Architektur. Komplexe Projekte mit ausgedehnten Planungsphasen, mehreren Bauherren, einem Bauleiter, mehreren Umsetzenden. Die Interface-Design-Neulinge wissen, dass traditionelle Architekten in dieser Situation viele Aufgaben und Verantwortlichkeiten haben: zusammen mit den Bauherren den Grob- und Detailentwurf zu erarbeiten, alle Anforderungen, Wünsche, das Budget und die technischen Einschränkungen zu verbinden, und bei der Umsetzung Bauingenieure, Bauarbeiter und Handwerker zu koordinieren, ohne unterwegs die ursprüngliche Vision zu verlieren. Wir vergleichen unsere Aufgaben mit ihren, weil auch Benutzeroberflächen-Projekte von uns verlangen, dass wir bei Gestaltung von der ersten Vision bis zum Einsatz den Überblick behalten.

Helm und weißes Hemd

Bei einem typischen Projekt lernen wir in Ruhe die Aufgaben, für die das Interface gedacht ist, die geschmackliche Richtung und technischen Einschränkungen kennen und halten sie fest – zusammen mit Schlüsselpersonen des Kunden, aber auch mit Dritten, zum Beispiel externen Entwicklern. Kommunikation ist für die Arbeit an User Interfaces entscheidend, da viele Gewerke und Kompetenzen nahtlos ineinandergreifen müssen. Dabei hilft uns das Bild vom traditionellen Architekten in weißem Hemd, Gummistiefeln und Bauhelm. Traditionelle Architekten vermitteln zwischen Planung und Umsetzung. Auch wir müssen uns in beiden Welten bewegen, selbst wenn wir dazu keinen Helm aufzusetzen brauchen. Weil Centigrade neben Interaction Design und Management auch selbst entwickelt und visuell gestaltet, können wir uns gut in die Perspektive der anderen am Projekt Beteiligten versetzen. Wir wissen, dass der Architekt den Überblick behalten muss. Deshalb sind wir auch gute Handwerker, wenn wir unter der Leitung von anderen Architekten – Kunden oder anderen Interface Designern – arbeiten.

3 – Benutzung und Beobachtung

Erst die Benutzung haucht Bauwerken und Interfaces Leben ein. Am Anfang eines typischen Bauprojekts steht nicht die gewünschte Wirkung, sondern die Nutzung: Wohnen, Lagern, Arbeiten, Verbinden. Mit dieser Anforderung gehen Bauherren zum traditionellen Architekten, und erst wenn sie klar definiert ist, werden Größe des Hauses, finanzielles Budget, Zeitrahmen, Form und Materialien in Einklang gebracht. Auch User Interfaces sollten um die Benutzung herum entstehen. Der Vergleich zur traditionellen Architektur kann diese Grundlage allen klar machen, die an der Entstehung des Interfaces beteiligt sind: wir müssen die Nutzung klären und verstehen, um effektiv zu arbeiten. Jesse James Garrett erklärt in seinem Buch „The Elements of User Experience“  die Nutzung bekannter Software, indem er sie auf ein einzelnes Verb reduziert: Google – Suchen. Word – Schreiben. Skype – Telefonieren. Diese Tätigkeiten, zerlegt in Interaktionen, bestimmen das Interface. Und das Interface bestimmt mit, wie Benutzer die Software erleben.

Mustererkennung

Die Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer sind komplex und nicht auf den ersten oder zweiten Blick vorhersehbar – auch für traditionelle Architekten nicht. Deshalb baute beispielsweise Alaska Airlines 2003 einen Prototyp ihres neuen Check-In-Schalters, um zu sehen, wie Passagiere und Mitarbeiter damit umgehen, und die Erkenntnisse sofort testen zu können. (via Jason Fried und David Heinemeier Hansson, Rework) Aus dem gleichen Grund wurden der erste Apple Store 2001 und die neue Generation 2012 als Prototypen getestet, überarbeitet und wieder getestet. Die verantwortlichen Architekten wussten einfach, dass sie nicht alles im Voraus planen können.

Der Ansatz ist jedem, der Interfaces gestaltet, bekannt: Beobachtung, Prototypen und User Tests, in mehreren Iterationen. Wir User Experience Designer wenden ähnliche Methoden wie traditionelle Architekten an, weil wir beide komplexe Gestaltungsaufgaben lösen. Durch die Einbeziehung der Benutzer beobachten wir Verhaltensmuster, aus denen das Interface Konzept entspringen kann. Wir lernen die Benutzer, ihre Umgebung, und ihre Ziele kennen, und bekommen direkte, ungefilterte Erkenntnisse. Mit Interface-Prototypen können wir sie schnell aufnehmen und wieder beobachten, wie die Lösung sich in der Realität bewährt. Mit diesen Iterationen wird das Interface robuster und passt sich an die Nutzung an. Und von Projekt zu Projekt sammeln wir Erfahrung, welche Lösungen in welchen Situationen am besten funktionieren.

4 – Patterns

Patterns in der traditionellen Architektur

Das Konzept der Patterns geht auf den Architekten Christopher Alexander zurück. In dem Buch „A Pattern Language“ stellte er sie 1977 als Entwurfsmethode in der traditionellen Architektur vor. Schnell wurden sie auf Informatik und Systemdesign übertragen und kam auf diesen Weg ins Interaction Design. Dabei geriet ihre theoretische Grundlage in Vergessenheit. User Interfaces können von einer Wiederentdeckung der Ideen hinter den Patterns profitieren, um sie besser zu verstehen, zu erkennen und einzusetzen.

Christopher Alexander formulierte die Pattern Language als leichten Weg, Bauwerke zu gestalten und umzusetzen, die selbstverständlich, bequem, zeitlos und an ihre Umgebung angepasst sind. Seine Patterns für die traditionelle Architektur sammeln typische Beziehungen zwischen Menschen und Umwelt. Zum Beispiel das Pattern „Positive Outdoor Space“: Menschen bevorzugen Gärten und öffentliche Plätze mit klaren Grenzen, weil sie alles überschauen können und den Rücken frei haben. Ein anderes Beispiel ist das Pattern „High Places“: Menschen sitzen gerne auf Treppen, Geländern und Mauern im öffentlichen Raum, weil sie von dort besser sehen, ohne sich abzugrenzen. Solche Situationen haben wir alle schon selbst beobachtet. Genauso können wir beobachten, dass es typische Beziehungen auch zwischen Menschen und seiner digitalen Umgebung gibt – wie wir Informationen bearbeiten, wie wir sie durchsuchen, ordnen und verbreiten.

Die Patterns der traditionellen Architektur beschreiben den Kontext, nicht die Lösung. Auch wenn sie bekannte Konventionen widerspiegeln, liefern deshalb diese Patterns keine Musterlösungen. „High Places“ legt nicht fest, ob eine öffentliche Treppe, eine Veranda oder ein natürlicher sanfter Hang die Lösung ist. Diese Entscheidung treffen Architekten oder Bewohner im konkreten Kontext. Nur sie können die Situation unmittelbar erleben und gestalten, zum Beispiel, wenn sie in Kooperation ein Wohnhaus planen und bauen.

Patterns im User Experience Design

Entwurfsmuster wie „Wizard“ oder „Breadcrumb“ aus Interface Design-Libraries wie Quince oder UI Patterns sind konkreter als die Patterns aus der traditionellen Architektur. Sie enthalten eine Lösung, die allerdings immer noch nur in einem bestimmten Kontext passt. Auch diese Entwurfsmuster müssen in der Anwendung angepasst werden. Screenshots und Codebeispiele verführen allerdings dazu, diese Lösungen schnell zu kopieren, ohne auf den Kontext zu achten. Dadurch steigt das Risiko, sie ungewollt falsch zu verwenden.

Anders als zum Beispiel die traditionellen Architekten eines Wohnhauses lernen wir nie alle Benutzer unserer Interfaces kennen. Aber wir können mit Kontextanalysen, Prototypen und Usability Tests den Kontext zusammen mit einigen Benutzern am Beispiel verstehen, um die Patterns für das gesamte Interface zu erkennen. Diese Tests sollten mit dem Einsatz von Patterns fest verbunden sein: Patterns stammen aus der Beobachtung, ihre Anwendung fordert ebenfalls Beobachtung.

Fazit

Die vier Beispiele zeigen die Gemeinsamkeiten zwischen traditionellen Architektur und „User Interface Architecture“: beide müssen vielen Faktoren und Beteiligte zusammenbringen, und beide verbinden Ästhetik und Technik, Entwurf und Umsetzung. Schon deshalb fasst „User Interface Architectures“ unsere Arbeit gut zusammen. Wir lernen aber auch von der Erfahrung der traditionellen Architektur – die Bewohner und Benutzer stehen im Mittelpunkt, und wir müssen sie beobachten und mit einbeziehen, wenn wir erfolgreiche „User Interface Architectures“ gestalten wollen. Deshalb werden wir auch in Zukunft auf die traditionelle Architektur schauen, um alte Ideen zu prüfen und neue Ideen zu finden.

Update 2017: Während die Idee von „User Interface Architecture“ noch immer ihre Relevanz hat, konnte sich Centigrade als Unternehmen in den letzten Jahren darüber hinaus entwickeln, um Unternehmen noch ganzheitlicher bei dem Thema User Experience Design unterstützen zu können. Finden Sie unser erneuertes Mission Statement auf unserer Über uns Seite.

iPhone ist eine Marke oder eingetragene Marke der Apple Inc. in den USA und/oder anderen Ländern.

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