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Kleine Helden ganz groß – Kinderpatienten in der Therapie durch Virtual Reality unterstützen

Kleine und große Ziele spielerisch leicht erreichen, ohne sich der dabei aufgewendeten Anstrengung bewusst zu sein. Das ist eine Vision, die Forscher und Praktiker in verschiedensten Anwendungsbereichen rund um das Thema Gamification antreibt. In diesem Artikel beschreibe ich, wie wir im Forschungsprojekt „Mighty U“ Gamification praktisch anwenden, um Kinder mit motorischen Einschränkungen bei der Therapie zu unterstützen.

In den letzten Jahren entwickelte sich Gamification im deutschsprachigen Raum immer mehr zu einem medial stark präsenten Thema, mit dem man auch in zahlreichen TV-Berichten, Zeitungsartikeln und auf Konferenzen konfrontiert wurde. Aber nicht nur in den Medien erhielt Gamification ein positives Echo. Auch wir bei Centigrade bekommen immer mehr Anfragen im Gamification- und Enterprise Gaming Bereich, von denen schon einige Projekte in die Umsetzung gingen.

Kinder spielen ein Computerspiel

Die Projekte rund um das Thema Gamification haben dabei oft gemeinsam, dass die adressierten „nicht spielerischen“ Anwendungskontexte aus sich heraus nur wenig oder gar nicht intrinsisch motivierend für die jeweils fokussierte Zielgruppe sind. „Intrinsische Motivation“ liegt genau dann vor, wenn eine Person eine Tätigkeit um ihrer selbst willen ausübt und nicht, weil sie dafür eine externe Belohnung erwartet. Allein der Spaß an der Handlung ist Anreiz genug, diese auszuführen. Die Idee, Spiele nicht nur zu Unterhaltungszwecken einzusetzen, sondern deren Potential auch für andere Bereiche zu erschließen, ist nicht neu. Einige der ersten Empfehlungen für digitale Spiele stammen beispielsweise von Malone aus dem Jahr 1982. Hier werden drei Kategorien von Motiven genannt, welche durch Spiele unterstützt werden können: Herausforderung (Challenge), Fantasie (Fantasy) und Neugier (Curiosity). Durch den Einsatz von Gamification soll also erreicht werden, Personen zu motivieren, eine Aufgabe gerne und mit Spaß durchzuführen.

Zum positiven Effekt der Gamification auf die Motivation in vielen Bereichen haben wir schon oft in anderen Blog-Artikeln berichtet.

Ebenso in der Medizin gibt es bereits stichhaltige Beispiele aus Forschung und Entwicklung, die aufzeigen, dass Gamification an dieser Stelle durchaus Sinn macht. Bekannt wurde die Thematik durch den 3rd Person Shooter Re-Mission, der unterstützend in der Chemotherapie krebskranker Kinder und Jugendlicher eingesetzt wird. Von Re-Mission gibt es mittlerweile auch schon einen Nachfolger, eine Sammlung mobiler Casual Games, die unter dem Titel Re-Mission 2 veröffentlich wurden. In Re-Mission bekämpft der Spieler Krebszellen mit Hilfe von Waffen, die an Medikamente der Chemotherapie angelehnt sind. Ziel des Spiels ist es, die Selbstwirksamkeit der Patienten zu stärken – und somit auch den Therapieerfolg der Chemo. Zudem sollen die Spieler etwas über Ablauf und Wirkungsweise der Therapie lernen. Insgesamt soll der Patient motiviert werden, die Medikamente regelmäßig einzunehmen.

In einer groß angelegten Studie wurde Re-Mission auf seine Wirksamkeit in der Therapieunterstützung hin überprüft. Die Experimentalgruppe bestehend aus 164 Teilnehmern wurde gebeten, das Spiel mindestens einmal pro Woche eine Stunde lang zu spielen. Die Kontrollgruppe mit 140 Teilnehmern verfolgte weiter die reguläre Chemo-Therapie, ohne nebenbei das Spiel zu spielen. Die Studienergebnisse bestätigen die intendierte Wirkung. In der Experimentalgruppe wurden die für die Chemotherapie wichtigen Medikamente signifikant häufiger und regelmäßiger eingenommen. Die Konzentration der krebsbekämpfenden Substanzen aus der Chemo waren bei diesen Personen im Blut gemessen demnach höher als in der Kontrollgruppe. Auch die wahrgenommene Selbstwirksamkeit sowie das Wissen über Chemotherapie war in der Spielgruppe nachweislich höher als bei den Nicht-Spielern.

So viel zur Theorie. Wie lässt sich aber praktisch die Herausforderung eines ganz speziellen Anwendungskontexts und einer Zielgruppe mit besonderen Bedürfnissen im Health Bereich adressieren, die sowohl einiges an Potential für eine solche spielerische Lösung mitbringt, aber auch viele Risiken und Fallstricke birgt? Genau dieser Frage stellen wir uns in einem Forschungsprojekt, welches ich in diesem Artikel näher vorstellen möchte …

MightyU Logo Color mobile

Der Beginn einer aufregenden Reise

Nach langer Vorbereitung war es im März 2019 endlich soweit – das langersehnte Forschungsprojekt namens „Mighty U“ stand in den Startlöchern und konnte endlich Fahrt aufnehmen. Das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und den Verein Deutscher Ingenieure (VDI) geförderte Projekt beschäftigt sich mit der Entwicklung einer spielerischen Virtual Reality Anwendung zur Therapieunterstützung von Kindern und Jugendlichen mit infantiler Cerebralparese (ICP). Die infantile Cerebralparese ist eine chronische Erkrankung des Bewegungsapparates, die aufgrund einer Schädigung des zentralen Nervensystems im frühkindlichen Alter zu motorischer Beeinträchtigung führt.

Regelmäßige Therapie sowie selbstständiges Üben von Bewegungsabläufen im Alltag sind dabei extrem wichtig für die kleinen Patienten. Ziel solcher Übungen ist es, die Bewegungsfähigkeit und somit auch die Selbstständigkeit im Alltag in kleinen Schritten zu verbessern bzw. konstant zu halten, um einer Verschlechterung der Beschwerden entgegenzuwirken. Behandlungsziele liegen beispielsweise in der Unterstützung der aktiven Aufrichtung, Förderung von Bewegungsübergängen und der Verbesserung der Handlungskompetenz (z.B. zielgerichtetes Greifen). Hierbei helfen vor allem Physiotherapie und Ergotherapie. Solche Bewegungsübungen sind jedoch für die Kinder meist wenig abwechslungsreich und sehr herausfordernd, da sie oft mit großen körperlichen und kognitiven Anstrengungen verbunden sind. Wie könnte also der Weg zu einem erfolgreichen Produkt aussehen, dass seinen Zweck – also Kinder und Jugendliche mit ICP zum regelmäßigen Üben zu motivieren – am Ende erfüllt?

An dieser Stelle kommt MightyU ins Spiel. Zusammen mit unseren Projektpartnern Fraunhofer ISST, Universitätsklinik Bochum, Velamed und Meap arbeiten wir in den kommenden drei Jahren an der Entwicklung einer motivationssteigernden Technologie zur Trainingsunterstützung, die die Kinder und Jugendlichen über einen langen Zeitraum hinweg begleitet und je nach Ausprägung individueller Fähigkeiten mit dem Patienten „mitwachsen“ soll. Das Ziel ist es, die kleinen Patienten zu motivieren, die wichtigen Übungen häufiger durchzuführen. Die möchten wir erreichen, indem wir Muskelaktivität und kinematische Daten von Bewegungen mithilfe einer körpernahen EMG-Sensorik erfassen und diese für die Spielmechanik nutzbar machen. So kann das Spiel über Bewegung gesteuert werden und erkennt, wenn der Patient beispielweise eine falsche, zu schwache oder zu starke Bewegung ausführt. Diese Daten dienen dann sowohl der Generierung von Ingame-Feedback für den Patienten als auch der Kontrolle durch den behandelnden Therapeuten.

Für uns alle eine tolle Chance, etwas Neues auszuprobieren und ein bisher wenig erforschtes Feld zu betreten. Etwas Neues – d.h. auch die Vision, deren Therapieerfolg zum Positiven zu beeinflussen. Umso wichtiger, dass wir uns so gut wie möglich an den besonderen Bedürfnissen der Zielgruppe orientieren. Sei es in Bezug auf Spielmechanik, -genre und Motivationsaspekten oder in Bezug auf die Technologie, welche schlussendlich zum Einsatz kommt. Eines ist also sicher, eine spannende Reise steht uns bevor, aber auch eine große Herausforderung, die es zu meistern gilt.

Im Folgenden gebe ich einen kleinen Vorgeschmack, wie wir uns der Problemstellung nähern und welche Schritte im Projekt MightyU noch folgen werden.

Vorgehen im MightyU Projekt

Schritt 1: Grenze die Zielgruppe ein!

Den ersten Schritt in einem Projekt nennen wir Scoping. Detailliert berichteten wir über dieses Format in einem der letzten Blogartikel. Ziel des Scoping Workshop sind Projektvorbereitung und -definition. Was ist überhaupt unser Projekt und welches Ziel verfolgen wir? Welches Problem wollen wir lösen und für wen ist die Lösung genau gedacht? Auch bei „klassischen“ Projekten ist es wichtig, diese Fragen im Vorfeld zu stellen. Umso wichtiger ist dies jedoch in einem Projekt wie diesem, wo kaum ein Mitglied der Zielgruppe dem anderen ähnelt. Die Kinder und Jugendlichen mit ICP unterscheiden sich stark in Bezug auf ihre individuellen Fähigkeiten, das Krankheitsbild, aber auch in Bezug auf ihre Interessen und ihr Alter. Wie also eine Lösung generieren, die allen gerecht wird?

Im Rahmen des Scopings haben wir uns also sowohl mit den Projektpartnern, die alle ihrerseits unterschiedliche Perspektiven mitbringen, als auch mit Therapeuten und Ärzten an einen Tisch gesetzt, um die Projektdefinition gemeinsam zu erarbeiten. Zudem formulierten wir erste Personas und Szenarien, um Empathie für unsere Zielgruppe zu entwickeln und Anknüpfungspunkte für die gamifizierte Lösung zu identifizieren.

Persona Mightyu

Schritt 2: Lerne deine Zielgruppe kennen!

  • Wie muss ein Spiel aussehen, dass Kinder und Jugendliche gerne spielen? Und damit verbunden, welche Interessen und Fähigkeiten herrschen in der Zielgruppe vor?
  • Wie motivieren wir diese Kinder so, dass sie bestenfalls gar nicht merken, dass sie trainiert werden?
  • Wie können Eltern, Freunde, Klassenkameraden etc. in das Spiel einbezogen werden ohne dass die kranken Kinder trotz Einschränkungen hinter den „gesunden“ Spielern zurückbleiben?

Dies sind nur einige Fragen, die wir uns nach dem Scoping stellten. Unserer Ansicht nach kann das spätere Produkt nur dann die gewünschte Wirkung entfalten, wenn wir die Zielgruppe sowie auch andere Stakeholder wie Therapeuten und Ärzte kontinuierlich in den Entwicklungsprozess einbeziehen. Auf Basis dieser Philosophie führten wir eine Reihe von Interviews mit ICP Kindern und deren Angehörigen, besuchten diese Zuhause in ihrem normalen Umfeld und bei Therapiesitzungen, um ein möglichst umfassendes Bild zu bekommen.

Besonders gewinnbringend war es hierbei, sich mit den kleinen Patienten über ihre Interessen und Hobbies zu unterhalten. So erfuhren wir, dass die Kinder die gleichen Videospiele mögen wie gleichaltrige gesunde Kinder, zum Beispiel die Batman Arkham Reihe. Mit einem kleinen Unterschied – denn selber spielen ist aufgrund der motorischen Einschränkung der Handmuskulatur in vielen Fällen gar nicht möglich. Dennoch lassen die Kinder sich nicht aufhalten, sondern suchen nach Lösungen, um trotzdem teilhaben zu können. So spielen sie beispielweise mit ihren Freunden zusammen, geben Tipps und sagen, wo die Spielfigur hingesteuert werden soll. Das ist für uns natürlich eine besonders spannende Erkenntnis. Wäre es nicht toll, wenn die Kinder bei MightyU mit ihren Freunden zusammenspielen, aber auch endlich das Spiel steuern und zum Geschehen beitragen könnten?

Schritt 3: Teste kontinuierlich Ideen und Lösungen!

Neben der inhaltlichen Komponente der spielerischen Lösung stellt natürlich auch die technische einen wichtigen Faktor dar. Die großen Player im Bereich Spielekonsolen und Software bieten bereits technische Lösungen, die für unseren Anwendungszweck vielversprechend sein könnten. Besonders interessant sind für uns hierbei Systeme, die innovative und flexible Kontrollmöglichkeiten bieten und Bewegung des Spielers einbeziehen. In mehreren Playtesting-Sitzungen haben wir uns bereits mit solchen Spielen und Hardwarekomponenten auseinandergesetzt. Besonders spannend fanden wir unter anderem das Labo Robo-Set für die Nintendo Switch. Mit Hilfe eines einfach umzusetzenden Bastelsets werden Schnüre an einer Art Rucksack befestigt. Der Spieler trägt diesen während der Interaktion mit dem Spiel auf dem Rücken und steuert mit den „Controllern“ einen virtuellen Roboter. Auch ganze Körperbewegungen haben ein Resultat im Spiel. Duckt sich der Spieler, verwandelt sich der Roboter in ein Auto, mit dem er dann durch die Spielwelt düsen kann. Natürlich müssen wir in Bezug auf unsere ICP-Patienten darauf achten, dass eine gute Balance zwischen motorischen Anforderungen und Spielspaß gegeben ist. Weder darf das Spiel zur Überforderung führen, noch darf der Spielspaß darunter leiden, dass auch verhältnismäßig kleine Erfolge für die Patienten mitunter schon mit großer Anstrengung verbunden sind.

Um die richtige Balance an dieser Stelle zu finden, werden wir das Spiel fortlaufen Testen und auch hier unter engem Einbezug der Zielgruppe arbeiten.

Spiele Test Nintendo VR

Und was kommt als Nächstes?

Nachdem wir die Zielgruppe kennengelernt und erste bestehende Lösungsideen angeschaut haben, werden wir in die Ideation- und Konzeptphase starten. Zusammen mit den Projektpartnern wird es darum gehen, geeignete Spielelemente auszuwählen und uns schlussendlich auch für eine Technologie zu entscheiden. Das Konzept wird dann fortlaufend zusammen mit der Zielgruppe evaluiert und iterativ angepasst werden.

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