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Lean & long-lasting – Ansätze für nachhaltige UX-Projekte

Miriam Julius
Miriam Julius
9. Oktober 2023

Sustainable UX Mockup

Im allgemeinen Diskurs zum Thema Nachhaltigkeit geht es oft um Ressourcen, Energie und Müllvermeidung. Was bedeutet Nachhaltigkeit für digitale Produkte? Digital gibt es keinen Müll, und Ressourcen sind eher indirekt. Aber der IT-Sektor ist für 4% der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, genauso viel wie der globale Flugverkehr verursacht. Wo kommen diese Emissionen her? Eine E-Mail erzeugt 10g CO2, weil sie auf ihrem Weg vom Sender zum Empfänger durchschnittlich 15.000 km zurücklegt. Streaming-Dienste (inkl. Video Chat) erzeugen 205g CO2 pro Stunde weltweit, bedingt durch den Energiebedarf von Servern, Routern, etc. Das Konsumieren von Gigabyte verpulvert eine Menge CO2. Es gibt sehr viele sehr nützliche Artikel, wie man z.B. Websites so gestalten kann, dass unbescholtene Besucher*innen nicht unwissentlich viel mehr Energie verwenden, als nötig z. B.

Für uns als UX-Designer*innen heißt das, wir brauchen ein Bewusstsein für die Menge der Daten, die Nutzer*innen laden müssen, um einen Service anzuwenden. Relevante Mengen sparen kann man auf diese Weise aber nur bei sehr hohen Nutzungszahlen. Es ist unklar, wie viel schlanker ein Webservice sein muss, um zu erreichen, dass irgendwo ein ganzer Server abgeschaltet wird, womit dann wirklich eine relevante Menge CO2 eingespart werden kann. Ist es also nachhaltiges UX-Design, den Datenverkehr zu minimieren? Die Wahrheit ist komplexer.

Digitale Produkte sollten Nutzer*innen befähigen, sowohl effizient und effektiv (lean) zu arbeiten, als auch ihre Geräte und Produkte länger zu verwenden, bevor sie sie entsorgen (long-lasting). Ideen und Vorschläge, wie man das erreichen kann, habe ich in diesem Artikel zusammengetragen.

Lean: Workflows schlanker gestalten

Digitale Produkte lenken das Konsumverhalten, von Online-Shopping bis zu Produktionsabläufen. Kann man in einem Produktionszyklus z.B. eine gedruckte Bestätigung wegkürzen, spart man CO2 und Ressourcen bereits ab der ersten Nutzung. Bei nachhaltigem UX-Design geht es weniger um die Software, sondern um das daraus resultierende Verhalten der Nutzer*innen. So erlaubt eine sinnvoll eingesetzte Benachrichtigung zur Abnutzung eines Bauteils Nutzer*innen, Maschinen früher zu warten und dadurch eine längere Haltbarkeit zu gewähren. Ein gutes Fehlermeldungskonzept erleichtert es Nutzer*innen, schneller und adäquater zu reagieren und sorgt für weniger Ausschuss, sodass Rohmaterial länger reicht. Nutzer*innen können befähigt werden, ihre Aufgaben effizienter zu erledigen; dabei geht es nicht zwangsläufig um Zeitersparnis, sondern in erster Linie um Effizienz in Bezug auf die verwendeten Ressourcen. Wenn in der Erarbeitung von User Journeys und Workflows bereits darauf geachtet wird, können die Nutzer*innen sich nachhaltiger verhalten.

Ein weiteres Beispiel ist der Füllstand von Chemikalien in Labormaschinen. Sagen wir, es gibt das Nutzerbedürfnis, dass Labormitarbeiter*innen rechtzeitig gewarnt werden möchten, bevor die Chemikalie leer ist. Das UX-Team gestaltet daraufhin für das Interface eine Warnung im Stil von „Achtung, niedriger Füllstand“. Mit dieser Info können die Labormitarbeiter*innen den Behälter mit der Chemikalie rechtzeitig austauschen. Würde das Nutzerbedürfnis nur etwas umformuliert, zum Beispiel „Labormitarbeiter*innen wollen immer eine ausreichende Menge der Lösung für ihre anstehenden Aufgaben bereitstellen“, würde das UX-Team eher eine präzise Füllstandsanzeige gestalten. Nutzer*innen sind dann nicht dazu gezwungen, den ganzen Behälter auszutauschen und die darin enthaltenen Reste weg zu kippen, weil sie nicht ermitteln können, wie viel genau sie nachfüllen müssen. Sondern sie können den Rest weiterverwenden und die optimale Menge einfach nachfüllen. Das spart auch dem Labor Beschaffungskosten. Workflows zu optimieren ist nichts Neues, sondern eine der Hauptmotivationen für Unternehmen, UX-Designer*innen in ihre Projekte zu involvieren. Das ist eine gute Nachricht, denn es heißt, wir haben dafür bereits gut entwickelte und erprobte Methoden. Ich möchte aber das Bewusstsein schärfen, insbesondere auf das Ressourceneinsparungspotenzial zu achten.

Lean: Das Richtige entwickeln

Zum Arbeitsalltag von UX-Designer*innen gehört neben der Vereinfachung von Workflows die Analyse der Requirements. Das ist ein weiterer Ansatz für nachhaltiges UX-Design. Haben die formulierten Anforderungen einen wirklichen Mehrwert für die Nutzer*innen? Wir müssen uns darauf konzentrieren, die identifizierten Benutzerbedürfnisse zu adressieren und uns nicht von zusätzlichen Funktionen verleiten lassen, bei denen unklar ist, ob sie überhaupt genutzt werden. Mit diesem Ansatz können sowohl Entwicklungskapazität als auch Daten eingespart werden bzw. die Entwicklungskapazität kann für etwas eingesetzt werden, wovon die Nutzer*innen wirklich profitieren.

Was ist, wenn der Blick erweitert wird und neben Nutzer*innen auch die Umwelt oder die verwendeten Ressourcen betrachtet werden? Hierzu gibt es ein paar spannende Artikel

Die Erweiterung unserer Perspektive über unsere Persona hinweg auf ihren Kontext, ihre Umwelt und das ganze System, in dem sie agiert, sollte ebenfalls dabei helfen, Requirements zu hinterfragen.

Auch hier möchte ich ein Beispiel machen. Beim Online-Shopping müssen Nutzer*innen oft eine Versandmethode auswählen. Es liegt auf der Hand, dass Kund*innen ihre Pakete so schnell wie möglich erhalten wollen, daher wird als Auswahlkriterium meist hauptsächlich die Versanddauer angegeben. Würde das UX-Team bei der Analyse der Requirements nicht nur die Nutzer*innen ins Zentrum stellen, sondern auch Umweltfaktoren, könnten Anforderungen zur CO2-Bilanz der Versandmethode entstehen. Neben der reinen Dauer könnten dem Interface weitere Kriterien (oder KPIs) wie Versand per LKW, Zug oder Flugzeug oder ein Indikator für die CO2-Belastung der Versandart hinzugefügt werden. Das würde die Nutzer*innen befähigen, eine informierte Entscheidung zu treffen.

Im Projektalltag gerät eine so breit angelegte Fragestellung schnell aus dem Fokus. Hier experimentieren wir gerade mit KI-Unterstützung, die Inhalte der User Needs oder User Journeys anhand von Kriterien, die vermutlich für jeden Kontext bzw. Domäne angepasst werden müssten, überprüft. Die Idee ist, dass die KI UX-Designer*innen warnt, falls sich Umweltrisiken oder ungeplanter Einsatz von Ressourcen abzeichnen.

Long-lasting: Ältere Hardware unterstützen

Reicht es aus, Ressourcen zu sparen? Unser lineares Wirtschaftssystem basiert auf Wachstum, dem Gegenteil von Sparen. Interessante Antworten liefert die „Circular Economy“ (Kreislaufwirtschaft). Rohstoffe sollten nach der aufwändigen Gewinnung und Verarbeitung so lange wie möglich verwendet oder sogar wiederverwendet werden, um so spät wie möglich ihre „End-of-Life“-Phase zu betreten, mit der sie als sekundäre Rohstoffe in die Industrie zurückfließen. Das steigert den Mehrwert der Rohstoffe und eröffnet neue Geschäftsmodelle mit einer deutlich besseren Umweltbilanz. Als UX-Designer*innen können wir auf die Nutzungsphase von Produkten einwirken. Dieser Aspekt wird bisher nicht in UX-Design-Prozessen fokussiert. Sollten wir langlebigere digitale Produkte gestalten?

Digitale Produkte skalieren anders als physische Produkte, da sie weder Müll erzeugen noch Rohstoffe benötigen. Ein Bauer kann ohne globale Auswirkungen auf seiner Alm eine Kuh melken und deren Milch trinken. Wenn hingegen alle Menschen Milch trinken wollen, führt das zu umweltschädlichen Strukturen. Für nur eine oder wenige Personen eine App zu entwickeln, wäre allerdings nicht sehr nachhaltig. Bei Software sind die Mechanismen andere als bei physischen Produkten. Software ist umso langlebiger, je länger sie auch auf älteren Endgeräten und unterschiedlichen Geräten läuft und sich modular anpasst. Software-Updates und -Wechsel sind sinnvoll, da neuere Software oft effizienter ist. Es gibt Argumente, wieso ein altes Auto weiter gefahren werden sollte; bei Software hingegen ist ein Update meist nachhaltiger als die alte weiter laufen zu lassen oder gar neue Hardware zu kaufen.

Long-lasting: Software nach Standards gestalten

Es geht also nicht darum, dass die Software länger hält, sondern dass sie flexibler auf Hardwareanforderungen reagieren kann. Aus UX-Design-Sicht kann man dies unterstützen, indem man auf Standardisierung und Responsive Design setzt. Komplexe Custom Controls kann man je nach Software-Domäne nicht ganz vermeiden (und befriedigen auch den gewissen Geltungsdrang von UX-Designer*innen), aber sich an Standards zu halten ist nachhaltiger, da diese tendenziell besser auf verschiedenen Endgeräten funktionieren und eher Accessibility-Anforderungen entsprechen.

Statt mit besonders innovativen Lösungen sollten wir uns in Zukunft mit Lösungen brüsten, die unseren Nutzer*innen erlauben, ihre Endgeräte länger zu behalten, so dass es sich auch lohnt, z.B. alte Smartphones zu reparieren und damit seltene Erden zu sparen. Es gibt dazu einen schönen Artikel, der zu mehr Demut im UX-Design aufruft. Es macht auch Sinn, zum Beispiel etablierte Anbieter für Login und Nutzerverwaltung einzubinden. Hier gibt es Anbieter, die ihren Service seit Jahren auf besonders effizienten Datenverbrauch optimieren. Diesen Vorsprung kann man im eigenen Projekt niemals aufholen. Im Sinne der Standardisierung sind auch Design Systeme nachhaltiger, sofern die Komponenten responsive sind.

Long-lasting: Für zukünftige Anforderungen gestalten

Auch wenn der Fokus auf der Langlebigkeit von Hardware oder verwendeten Materialien liegen sollte, haben dennoch Softwarehersteller Interesse daran, dass die Software selbst möglichst lange einen Mehrwert bietet. Um das zu gewährleisten, sollte unsere Software auf soliden Software-Design-Prinzipien aufgebaut sein, und ihre Funktionalität sollte auch in den kommenden Jahren relevant bleiben, insbesondere indem wir sicherstellen, dass wir bereits zukünftige Vorschriften wie beispielsweise Barrierefreiheit erfüllen. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sieht zum Beispiel vor, dass ein digitales Produkt Kommunikation, einschließlich zwischenmenschlicher Kommunikation, Bedienung, Information, Steuerung und Orientierung über mehr als einen sensorischen Kanal ermöglichen muss. Visuelle Elemente sollten eine flexible Einstellung der Größe, der Helligkeit und des Kontrasts vorsehen und vieles mehr.

Ein weiteres Beispiel für relevante Regulatorien ist das Lieferkettengesetz, welches neben transparenten Einblick in die Herstellungsprozesse aller Zulieferer mit Augenmerk auf Umweltrisiken und Menschenrechtsverletzungen auch Beschwerdemöglichkeiten für Nutzer*innen fordert. Ab 2023 gilt es zunächst für Unternehmen mit mindestens 3.000, ab 2024 auch für Unternehmen mit mindestens 1.000 Beschäftigten in Deutschland.

Long-Lasting: Bindung zwischen Produkt und Nutzer*innen gestalten

Viele Produkte sind heute darauf ausgelegt, eine kurze Lebenszeit zu haben, Stichwort geplante Obsoleszenz. Dabei geht es oft um Strategien, die auch durch Marketing umgesetzt werden sollen. Ein neues Produkt muss immer begehrenswerter sein als das aktuelle. Daher ist ein Schlüsselaspekt für langlebige Produkte auch die emotionale Bindung zwischen einem Produkt und den Nutzer*innen. Vertrauen sie in z.B. assoziierte Services (also die verfügbaren Apps oder Softwareprodukte), werden sie ihre Geräte weniger häufig austauschen wollen. Attraktivität spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine bedeutende Rolle. Im UI-Design sollte nach Möglichkeit entweder auf Langlebigkeit und somit auf klassische Ästhetik gesetzt werden, oder der Look sollte kontinuierlich weiterentwickelt und angepasst werden, so dass der Service begehrenswert bleibt. Personalisierung kann den gleichen Effekt erzielen. Hier sehen wir in Zukunft Potenziale durch die Nutzung von KI im Design-Prozess, die individuelle Daten erfassen und personalisierte UIs erstellen könnte.

Long-lasting: Das Narrativ ändern

Es ist an der Zeit, das richtige Narrativ zu finden und zu verwirklichen, um eine nachhaltige Zukunft für uns und kommende Generationen zu gestalten. Designer*innen spielen hier eine zentrale Rolle, denn sie sind diejenigen, die den sozialen Rahmen gestalten und somit Einfluss auf die Konsumgesellschaft nehmen, wie Leyla Acaroglu im Video treffend bemerkt.

Die Zukunft ist noch nicht vollständig entworfen, und UX-Designer*innen haben maßgeblichen Einfluss darauf, wie diese Zukunft aussehen wird. Dies reicht von der Gestaltung neuer Technologien bis hin zur Beeinflussung gesellschaftlicher Trends, wie etwa, was als „cool“ und was als „nicht cool“ angesehen wird.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir die Konversation über Design und Nachhaltigkeit auf ein höheres Niveau heben. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Nachhaltigkeit lediglich ein „Add-on“ ist, das nachträglich hinzugefügt werden kann. Stattdessen müssen wir schon bei der Definition unserer Businessziele, bei der Priorisierung von Projekten, und bei der Erfassung von Requirements das Thema Nachhaltigkeit ansprechen. Kleine Veränderungen führen zu großen Veränderungen. Schon eine regelmäßige Diskussion über Nachhaltigkeit in Besprechungen wird andere ermutigen, in ihren eigenen Kontexten ähnliche Fragen zu stellen. So kann man in jeder Organisation Veränderungen bewirken. Dabei ist es nicht notwendig, spezielle Rollen oder Berufsbilder für nachhaltiges Design zu etablieren; viele der Ansätze in diesem Artikel sind bereits mit Methoden und Prozessen aus dem UX-Design zu erreichen. Lediglich die Aufmerksamkeit muss mit einem neuen Narrativ auf die richtigen Fragen gelenkt werden.

Die Sorge, dass Unternehmen oder die Geschäftsleitung nicht offen für das Thema Nachhaltigkeit sind, ist nach Gunther Rothermel von SAP unbegründet. Laut seinem Vortrag bei der UIG Tagung 2023 haben sich viele CEOs das Thema bereits selbst als Ziel gesetzt (zum Beispiel auch bei SAP). Er beobachtet eine neue Generationen von Führungskräften, die intrinsisch motiviert ist, nachhaltige Entscheidungen zu treffen. Sie bringen ein starkes persönliches Engagement für Umweltschutz und soziale Verantwortung mit. Die Ansätze in diesem Artikel erzeugen für Kunden und Auftraggeber auch keine expliziten zusätzlichen Entwicklungsaufwände, sondern sind im Gegenteil sogar noch stärker auf effiziente Ressourcennutzung fokussiert als eine reine nutzerzentrierte Herangehensweise.

Es gibt also Grund zum Optimismus, dennoch sind die gesammelten Ansätze nicht einfach zu erreichen. Als UX-Designer*innen müssen wir die komplexen Zusammenhänge verstehen und unsere Nutzer*innen befähigen, ihre Ziele mit weniger Material- oder Energieeinsatz zu erreichen (lean) und ihre Geräte und Produkte länger zu nutzen und auch länger nutzen zu wollen, indem wir das Narrativ anpassen und Nachhaltigkeit in den Kern unserer Arbeit rücken lassen (long-lasting).

 

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