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Die Rückkehr des Pie Menüs

Justine Kiermasch
16. Juni 2010

In den letzten Jahren haben sich sogenannte Natural User Interfaces (NUI) immer weiter verbreitet. Immer häufiger wird auf Maus oder Tastatur zugunsten der direkten Bedienung per Touch und Gesten verzichtet. Das Apple iPhone hat die Massen begeistert und nicht zuletzt dazu beigetragen, dass Systeme mit Touchscreen im privaten Bereich immer beliebter geworden sind. Zudem hat es die Gestensteuerung, die in Verbindung mit Multitouch-Geräten oft verwendet wird, auf spielerische Art und Weise den Usern näher gebracht. Es gibt kaum noch einen Touchscreen Nutzer, der die Pinch-Geste, mit welcher auf dem iPhone Bilder verkleinert werden oder aus einer Ansicht heraus gezoomt wird, nicht kennt.

Pinch Geste
Pinch Geste

Der Trend bei konsumorientierter Software geht ganz klar in Richtung Natural User Interfaces. Dies lässt sich ganz besonders in der Spieleindustrie beobachten: Aktionen werden bei der Nintendo Wii nicht mehr nur mit einem Knopfdruck ausgeführt, sondern durch eine tatsächliche Bewegung des Controllers. Das Microsoft Project Natal setzt sogar komplett auf die Interaktion ohne Eingabegeräte (Free-Form Gestural Interface).

Unterschiede in der Bedienung

Doch dieser Trend zwingt Entwickler und Interface Designer zum Umdenken. Bisher wurden Anwendungen für die Verwendung mit speziellen Eingabegeräten wie etwa Maus und Tastatur entwickelt. Multitouch-Geräte werden jedoch primär mit den Händen und Fingern bedient, was andere Möglichkeiten zur Interaktion bietet. Dies bedeutet jedoch auch, dass existierende Anwendungen nicht einfach auf ein Touchscreen System übernommen werden können, da die Finger als Eingabemedium ganz andere Eigenschaften haben als Maus, Tastatur oder Stift. Und gerade weil ein Touchscreen System viel mehr Möglichkeiten bietet, ist es in der Bedienung wesentlich impliziter.

Die Maus hat zur Interaktion nur eine sehr begrenzte Anzahl von Möglichkeiten und die meisten Aktionen werden bereits durch ein Klicken mit der linken Taste ausgelöst. Bei einem Touchscreen hingegen hat der User, außer dem Screen selbst, kein spezielles Eingabemedium und muss so eigenständig herausfinden, wie er mit dem System kommunizieren kann. Dies kann erlernt werden, indem der Benutzer die Interaktionsmöglichkeiten sieht, nachliest oder aber exploriert.

Das eigenständige Entdecken eines Interface ist zunächst positiv, da es den User dazu animiert sich selbstständig mit der Anwendung zu beschäftigen und diese spielerisch zu erlernen. Doch gerade aufgrund der vielen Möglichkeiten, die ein Multitouch-Gerät bietet, ist es fraglich, dass ein Nutzer alle Optionen, vor allem die komplexeren, selbstständig findet. Das wiederum stellt den User Interface Designer vor ein ganz neues Problem: Wie kann ein Interface für einen Touchscreen so gestaltet werden, dass der Benutzer die Gesten möglichst ohne Hilfe und selbstständig herausfindet?

Menünavigation auf Multitouch-Geräten

Ein zentrales Thema, das hier angesprochen werden soll, ist die Menünavigation auf einem Touchscreen. Herkömmliche Computer greifen in den meisten Fällen auf ein lineares Menü (oft Pull-Down Menü genannt) zurück.

Lineares Menü oder auch Pull-Down Menü
Lineares Menü oder auch Pull-Down Menü

Die Navigation mit Hilfe der Maus in solch einem Menü funktioniert relativ gut, sobald der User mit der Funktionsweise vertraut ist. Auf Touchscreen Systemen hingegen ist ein lineares Menü alles andere als optimal. Mit einem Cursor ist es möglich, relativ präzise zu einem Listeneintrag zu navigieren, die Finger jedoch haben eine viel größere Kontaktfläche als ein Mauszeiger. Ein Listenmenü für einen Touchscreen müsste demnach wesentlich größer ausfallen und würde daher auch mehr Platz in Anspruch nehmen. Auch die Navigation zu den einzelnen Einträgen ist mit der Maus, je nach eingestellter Sensitivität, kein Problem. Eine kleine Bewegung der Hand reicht oftmals und schon befindet sich der Cursor am anderen Ende des Bildschirms.

Werden die Finger als Zeigeinstrument verwendet, ist die Bewegung, die hierfür ausgeführt werden muss, teilweise mehr als doppelt so groß. Es ist Benutzern nicht zuzumuten, dass sie für eine simple Menünavigation die Hand über den gesamten Bildschirm hinweg bewegen müssen, da so bei längerer Verwendung des Touchscreens die Arme schnell ermüden, vor allem da Displays tendenziell immer größer werden. Hierbei tritt ein Nebeneffekt auf, der humoristisch auch „Gorilla Arm“ genannt wird: Muss ein User an einem senkrecht angebrachten Touchscreen arbeiten, werden seine Arme schnell schwer und die Arbeit mühsam und anstrengend. Zudem sieht der Nutzer während der Bedienung oftmals aus wie ein Gorilla und fühlt sich danach auch so. An dieser Stelle muss also umgedacht werden.

Das Pie Menü

Aufgrund der Entwicklung hin zu Touch Systemen und den Unzulänglichkeiten von klassischen Menüs, ist es gut möglich, dass ein Menü wieder ins Licht tritt, das sich trotz seiner zahlreichen Vorteile gegenüber dem linearen Menü, nie wirklich hat durchsetzen können: das Pie Menü.

Schnellere Zugriffszeiten (siehe Fitts’ Law), bessere Orientierung, da sich alle Elemente gleich weit weg vom Ausgangspunkt des Menüs befinden und Gestenunterstützung, indem der Nutzer den Bewegungsablauf für die entsprechenden Aktionen während deren Durchführung erlernt und schließlich auch blind durchführen kann („muscle memory“, siehe auch Kapitel: Untermenüs), sind nur einige der Vorteile, die ein Pie Menü auf einem Computer, der mit Maus und Tastatur bedient wird, mit sich bringt.

Doch auch das Pie Menü hat Nachteile: Aufgrund der Struktur ist, je nach Auslegung, nur eine bestimmte Anzahl an Menüfeldern möglich, ohne dass die Felder so klein werden, dass sie nicht mehr ohne Probleme angesteuert werden können.

Pie Menüs nur für Videospiele?

Die Spieleindustrie hat die „Kuchenmenüs“ schon lange für sich entdeckt. Vor allem Spiele, bei denen es um Schnelligkeit geht, profitieren sehr davon. Nach häufiger Nutzung einer Aktion speichert das Gehirn die entsprechende Bewegung im motorischen Gedächtnis ab. Der Nutzer kennt so die Position, zu der er die Maus bewegen muss, beziehungsweise die Geste, um die gewünschte Aktion durchzuführen.

Es ist ähnlich wie beim Tippen auf einer Tastatur. Neulingen bereitet die Fülle an Tasten noch Probleme, doch je häufiger die Tastatur verwendet wird, desto schneller können die gewünschten Tasten erreicht werden und umso weniger Konzentration wird dafür benötigt – das Gehirn kennt die Bewegung, um die gewünschte Taste zu erreichen oftmals sogar so gut, dass blindes Tippen möglich ist. Die Verwendung von Pie Menüs ist also, banal ausgedrückt, so intuitiv und „unverlernbar“ wie Fahrradfahren.

Pie Menü trifft Touchscreen

Doch soll ein Pie Menü für die Interaktion mit einem Touchscreen System verwendet werden, genügt es nicht, bloß das lineare Menü durch ein solches zu ersetzen. Touchscreens unterscheiden sich in ihrer Bedienung ganz entscheidend von klassischen Bildschirmarbeitsplätzen: Wo zuvor noch der Cursor war, ist nun der Finger und dieser verdeckt, im Gegensatz zum Mauszeiger, einen wesentlich größeren Teil des Bildschirms.

Das bedeutet unter anderem, dass das Pie Menü eine bestimmte Mindestgröße haben muss, was natürlich entsprechend viel Platz erfordert. Aber auch die Anzahl der Felder ist durch die Navigation mit dem Finger eingeschränkt. Sollen möglichst einfache Gesten unterstützt werden, empfiehlt es sich, ein Pie Menü mit mindestens 45° Winkeln zu verwenden, da diese vom User noch präzise genug ausgeführt werden können, um vom System eindeutig erkannt zu werden. Unter Berücksichtigung dieser Restriktionen ergibt sich ein Pie Menü mit maximal acht Feldern. Beachtet man nun noch, dass die Finger eines Erwachsenen typischerweise einen Durchmesser von 16 bis 20 Millimeter haben (Saffer, D. Designing Gestural Interfaces, 2008), ergibt sich für den Mittelpunkt des Menüs ein Durchmesser von optimalerweise mindestens 18, besser aber 20 Millimetern.

Aber nicht nur der aufliegende Teil des Fingers verdeckt Elemente im Menü, sondern – und vor allem auch – die verwendete Hand. Je nach Blickwinkel und Position des Bildschirms verschwinden ein oder gleich mehrere Teile des Menüs unter ihr – und zwar selbst dann, wenn der Handballen nicht direkt auf dem Screen aufliegt.

Pie Menü mit geschlossenem Design
Pie Menü mit geschlossenem Design

Geschlossenes Design vs. offenes Design

Ganz gleich welche Position die Hand einnimmt – innerhalb eines geschlossenen Pie Menü Designs ist es dem Benutzer unmöglich, alle Elemente zur gleichen Zeit einzusehen, ohne die Hand anzuheben.

Dies bedeutet für das Pie Menü, dass es keine Bereiche enthalten darf, die von der Hand oder dem Finger verdeckt werden. Um das zu erreichen, müssen alle Menüfelder entfernt werden, die von den Nutzern nicht ohne Probleme gesehen werden können. Auf diesem Weg entsteht ein offenes Design, das heißt das Menü nimmt grob die Form eines Fächers an.

Pie Menü mit offenem Design
Pie Menü mit offenem Design

Nachteile des offenen Designs

Mit einem offenen Design sind zwar alle Menüeinträge direkt sichtbar, allerdings entstehen andere Nachteile: Die Anzahl der Felder, die mit Aktionen belegt werden können, verringert sich zwangsläufig. Studien zufolge werden von den meisten rechtshändigen Usern in einem Pie Menü, das in acht Felder gegliedert ist, die drei Felder unten rechts verdeckt (analog dazu von Linkshändern die drei Felder unten links), die dann dementsprechend wegfallen. Dies hat, je nach Einsatzgebiet des Menüs, eine merkliche Einschränkung zufolge. Sollen mehr Aktionen verfügbar sein als Felder vorhanden sind, so müssen zusätzliche Felder auf eine andere Art bereitgestellt werden.

Eine Möglichkeit, mehr Aktionen zu erlauben, besteht darin, dem offenen Pie Menü jeweils Untermenüs hinzuzufügen. Mit den Feldern der obersten Menüebene werden so jeweils Untermenüs in Form von weiteren Pie Menüs geöffnet. Bleibt man beim offenen Pie Menü Design, erhält man so mit einer Ebene fünf mögliche Aktionen und mit mehr Ebenen entsprechend mehr Aktionen.

Ebenfalls entstehen auf diese Weise weitere Gesten. Diese bestehen nicht mehr nur aus einer Bewegung in eine Richtung, sondern beinhalten Richtungswechsel. Von mehr als drei Hierarchiestufen ist jedoch abzuraten, da hierbei schnell komplexe Gestenabfolgen entstehen und die Übersichtlichkeit des Menüs leidet.

Learning by doing

Das Pie Menü umgeht auf geschickte Art und Weise die Problematik, die in Verbindung mit Gesten und Touchscreen Systemen entsteht. Aufgrund der vielen unterschiedlichen Interaktionsmöglichkeiten ist es unwahrscheinlich, dass ein User selbstständig alle findet, vor allem wenn es sich dabei um komplexere Gesten oder Aktionen handelt. Das Pie Menü gibt jedoch stets visuelles Feedback zurück und zeigt dem User den Pfad zu der gewünschten Aktion an, während dieser sich durch das Menü bewegt.

Gesten im hierarchischen Pie Menü
Gesten im hierarchischen Pie Menü

Gesten werden so auf eine einfache Art und Weise entdeckt: „Learning by doing“.

Fazit

Die neuesten Entwicklungen und Projekte auf dem Gebiet der Natural User Interfaces zeigen ganz deutlich, dass sich die Technik zurzeit im Wandel befindet. Dies eröffnet ganz neue Wege, doch um diese beschreiten zu können, muss auch ein Wandel beim User Interface Design stattfinden: Die traditionellen und etablierten Interface-Elemente müssen auf der Grundlage von Touchscreens neu erforscht und gegebenenfalls auch ergänzt oder angepasst werden, damit sie weiterhin optimal genutzt werden können.

Die Interaktion mit Touch-Displays muss sich natürlich anfühlen und darf dem User keine großen oder komplizierten Bewegungen abverlangen. Das Pie Menü minimiert den erforderlichen Aufwand, um eine Aktion auszuwählen und ist auf einem Touchscreen einfacher und aufgrund der kurzen Wege natürlicher zu bedienen, als ein Drop-down Menü. Auch hat es den Vorteil, dass Novizen und Experten gleichermaßen unterstützt werden können und bietet die Möglichkeit, die Besonderheiten von Touchscreen Systemen, wie zum Beispiel die Gestensteuerung, zu nutzen.

Mit nur geringen Anpassungen lassen sich Pie Menüs in Touchscreen Anwendungen verwenden. Sie helfen dem Nutzer, schnell und gezielt zum gewünschten Ergebnis zu gelangen und erfüllen hierbei noch eine ganz wichtige Regel: „Don’t make me think!“ (Steve Krug)

Eine konkrete Designstudie zum Thema Pie Menü wird in einem anderen Blogartikel behandelt.

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