Na toll, müssen wir uns jetzt auch noch darum kümmern? Müssen wir jetzt richtig viel Geld in die Hand nehmen und alles ändern, und hinterher sieht unser digitales Produkt hässlicher aus als vorher? Und dieser ganze Aufwand nur für eine kleine Gruppe von Menschen mit Behinderung? Außerdem haben sich unsere Nutzer*innen bisher noch nicht beschwert, also kann es ja nicht so schlecht stehen um unsere Accessibility, also Barrierefreiheit.
Kennst du diesen Gedankengang vielleicht von deinen Kund*innen oder Kolleg*innen? Dann habe ich ein paar Argumente und Hintergrundfakten für dich, die du ins nächste Gespräch mitnehmen kannst, um die Gemüter zu besänftigen und vielleicht sogar einen neuen Blinkwinkel auf dieses Thema zu schaffen.
Auch wenn es viele sehr gute ethische Gründe dafür gibt, sich mit Accessibility zu befassen, ist für viele Menschen der überzeugendste vielleicht dieser: das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Es definiert bestimmte Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen, die Firmen ab Mitte 2025 gewährleisten müssen.
Darum ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um anzufangen, dich mit Accessibility vertraut zu machen. Wenn du bislang nicht viele Berührungspunkte mit diesem Thema hattest, mach dir keine Sorgen – dieser Artikel bietet dir einen Kickstart in das Thema.
Was ist Accessibility?
Accessibility, auf deutsch Barrierefreiheit, bedeutet, dass Menschen mit Behinderung digitale Produkte oder Websites genauso nutzen, wahrnehmen, verstehen und mit ihnen interagieren können wie Menschen ohne Behinderung.
Für Menschen mit Behinderung kann Technologie sehr vieles möglich machen… aber leider auch unmöglich. Ein digitales Produkt, das nicht barrierefrei ist, ist wie eine Mauer, die eine große Gruppe potenzieller Nutzer*innen ausschließt. Und das ist ein ziemlich unangenehmes Gefühl, das wir als UX Professionals niemandem geben wollen.
Wie unangenehm eine schwere Einschränkung tatsächlich ist, kann für nicht betroffene Menschen schwer nachvollziehbar sein. Unsere Verantwortung als UX Professional ist es, dafür zu sorgen, dass wir diese Einschränkungen besser nachvollziehen können. Zum Beispiel indem wir uns Geschichten von Betroffenen anhören und uns klarmachen, dass wir an irgendeinem Punkt in unserem Leben, spätestens im hohen Alter, sehr wahrscheinlich selbst mit Einschränkungen werden leben müssen. Ähnliches gilt auch bei schweren Unfällen – jeder Mensch ohne Einschränkungen kann jederzeit ein Mensch mit Einschränkungen werden.
Hier sind zwei Geschichten, die interessante Einblicke in das Leben mit Einschränkungen geben.
- BMX Professional Stephen Murray nutzt Eyetracking nach seinem schweren Unfall
- Der Ageing Suit: Wie fühlt es sich an, mit altersbedingten Einschränkungen zu leben?
Wer oder was ist WCAG?
Wenn man sich mit Accessibility beschäftigt, kommt man an den WCAG nicht vorbei. WCAG ist die Abkürzung für die Web Content Accessibility Guidelines, einer riesenlangen Liste voller Empfehlungen, um Webcontent zugänglicher für Menschen mit Behinderung zu machen. Die WCAG des World Wide Web Consortiums (W3C) bilden einen internationalen Standard zur barrierefreien Gestaltung von Webinhalten und werden sogar in einigen Gesetzen als Grundlage referenziert. Die meisten Accessibility-Checklists, wie z.B. diese Accessibility Checklist der Yale University die du im Netz finden kannst, bauen auf den WCAG auf.
Wer ist denn eigentlich unsere Accessibility Zielgruppe?
Plakativ gesprochen: ALLE.
Accessibility ist unverzichtbar für einige Nutzer*innen, und nützlich für alle anderen. Denn eine gute Accessibility bedeutet eine gute Usability, und davon profitiert jede*r.
Aber schauen wir uns erst einmal ein paar Zahlen zu unserer Accessibility-Zielgruppe an. Zahlen sind immer gut.
- 1,3 Milliarden Menschen weltweit sind von Behinderung betroffen, das sind etwa 20%.
- Jeder fünfte Mensch ist neurodivers (z.B. betroffen von Autismus, Dyslexie, ADHS oder Legasthenie)
- 6 Billionen Dollar ist die Kaufkraft des globalen Marktes von Menschen mit Behinderungen.
- 3% des Internets sind aktuell barrierefrei für Menschen mit Behinderung.
- 60 Accessibility-Fehler ist die durchschnittliche Anzahl pro Website.
Was umfasst Barrierefreiheit?
Barrierefreiheit befasst sich mit verschiedenen Arten von Einschränkungen und Behinderungen, zum Beispiel visuelle, motorische, auditorische, kognitive und sprachliche Einschränkungen. Nicht jede Einschränkung geht auf eine Behinderung zurück; auch Alter, sozialer Hintergrund oder sonstige Lebenssituationen können dazu führen, auf Barrierefreiheit angewiesen zu sein.
Behinderungen sind außerdem aus Accessibility-Sicht nicht immer nur permanente Zustände. Das ist ein wichtiger Punkt, der verdeutlicht, dass jede*r jederzeit auf Barrierefreiheit angewiesen sein kann.
Eine Behinderung kann sein:
- Permanent
Das bedeutet, Betroffene können ihre Situation nicht ändern. Dazu zählt beispielsweise Blindheit, Taubheit oder Lähmung. - Temporär
Das bedeutet, Betroffene müssen die Situation aussitzen. Dazu zählt beispielsweise ein gebrochenes Bein, eingeschränktes Hören oder Sprechen aufgrund einer Erkältung, die Müdigkeit und Konzentrationsschwäche am Abend oder der Verlust der Brille. - Situativ
Das bedeutet, dass Betroffene aus ihrer Situation herausgehen können. Dazu zählt beispielsweise schlechte Sicht auf ein Display in hellem Sonnenlicht, Laufen auf glitschigem Untergrund, oder in einer lauten Umgebung versuchen, etwas zu verstehen.
Und was hat das mit UX zu tun?
Wenn wir als UX Professionals die Einstiegshürden und den cognitive Load (die kognitive Belastung um etwas zu verstehen) auch für eingeschränkte Menschen niedrig halten, dann profitieren auch alle davon. Tun wir das nicht, werden wir manche Nutzer*innen glücklich machen, aber viele werden wir ausschließen. Ein ästhetisches Design und eine ganze Reihe wohlklingender Features werden schlichtweg nutzlos, wenn sie für bestimmte Menschen unzugänglich sind.
Darum ist Accessibility bzw. Barrierefreiheit untrennbar mit UX und Usability verbunden. Eine UX „usable“ zu nennen, die nur an manchen Stellen des UIs auch „accessible“ ist, wäre so als würde man sich als vegetarisch bezeichnen, aber nur auf Geflügel zu verzichten.
Die UX Grundprinzipien von Accessibility
Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) formulieren vier Grundprinzipien:
- Wahrnehmbarkeit
Informationen und Komponenten der Benutzeroberfläche müssen für die Nutzer*innen auf eine Weise darstellbar sein, die sie wahrnehmen können, und zwar nach dem Zwei-Kanal-Prinzip. Das bedeutet, dass Informationen über zwei Sinneskanäle wahrgenommen werden können. So müssen visuelle Inhalte auch hörbar gemacht werden, z.B. durch Alt-Tags für Bilder, die von einem Screenreader vorgelesen werden können. - Bedienbarkeit
Die Komponenten der Benutzeroberfläche und die Navigation müssen bedienbar sein. Schnittstellen dürfen keine Interaktion erfordern, die Nutzer*innen mit Einschränkungen nicht durchführen können. Das betrifft konkret z.B. die Tastaturbedienbarkeit, auf die motorisch eingeschränkte und sehbehinderte Menschen angewiesen sind, oder auch eine ausreichend lange Zeitbegrenzung für Interaktionen. - Verständlichkeit
Informationen und die Bedienung der Benutzeroberfläche müssen verständlich sein. Hier kommt neben einer klaren visuellen Sprache des Designs auch tatsächliche Sprache in Form von UX Writing ins Spiel. Eine gute Verständlichkeit erreichen wir durch eine möglichst klare, einfache Sprache, zielgerichtete Hilfen und erwartungskonforme Dialoge (zum Teil Punkte, die unter Conversational Design fallen). - Robustheit
Inhalte müssen so robust sein, dass sie von einer Vielzahl von Nutzer*innen und deren assistiven Technologien zuverlässig interpretiert werden können und adaptive Strategien wie Browserzoom unterstützen. Das bedeutet auch, dass Nutzer*innen in der Lage sein müssen, auch dann noch auf Inhalte zuzugreifen, wenn sich die zugrundeliegende Technologie weiterentwickelt. (z.B. Update einer Software)
Zur Erklärung:
Assistive Technologien sind Hardware oder Software, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, mit der digitalen Umgebung zu interagieren, z. B. mit einem Bildschirmlesegerät oder einer Schaltersteuerung.
Adaptive Strategien sind Techniken, die Menschen mit Behinderungen nutzen, um mit der digitalen Umgebung zu interagieren, z. B. die Anpassung von Plattform- und Browsereinstellungen oder die Größenänderung von Browserfenstern.
Bei Accessibility bzw. Barrierefreiheit geht’s um Menschen, die wir abholen und nicht um Checklisten, die wir abhaken müssen. Unser Ziel ist, dass Technologie für Menschen mit und ohne Behinderungen gut funktioniert. Nur wenn wir es schaffen, Accessibility als festen Bestandteil unserer UX Arbeit zu sehen, können wir inklusive Nutzer*innenerlebnisse schaffen.
PS: Und wie gut diese Nutzer*innenerlebnisse tatsächlich sind, können wir durch User Research messbar machen. 🙂 #UXResearchRules
Wenn ihr mehr über das Thema erfahren möchtet, bleibt dran!
Quellen:
https://wjd.de/junge-wirtschaft/er-sie-es/anders-ist-nicht-falsch/