Um sich einen ersten Überblick über die UX einer Website oder einer App zu verschaffen, wird häufig ein UX-Audit empfohlen. Aber was ist ein UX-Audit überhaupt?
Was ist ein UX Audit?
Ein UX-Audit ist ein im UX-Bereich angewandtes Vorgehen, bei dem ein oder mehrere UX-Professionals anhand von dokumentierten Usability-Heuristiken das User Interface einer App oder Website hinsichtlich Abläufen oder Umsetzungen bewerten. Ziel eines UX-Audits ist es, herauszufinden, ob alle ergonomischen Qualitäten nach aktuellem Stand des Wissens (also nach Standards und Industrienormen) vorhanden sind. Durch ein UX-Audit können Schwachstellen eines Systems in Bezug auf dessen Nutzerfreundlichkeit bzw. Gebrauchstauglichkeit erfasst werden und Antworten auf folgende Fragen gefunden werden:
- Sind wichtige Informationen auffindbar?
- Welche Begriffe bereiten Schwierigkeiten?
- Werden Nutzer*innen durch die Software unterstützt, ihre Aufgaben zu erledigen?
- In welchen Bereichen der Software bestehen Inkonsistenzen und werden allgemeine UX-Regeln verletzt?
- Sind Aufteilung, Struktur und Darstellung erwartungskonform und grundsätzlich bedienbar?
Die entstandene Mängelliste bietet dann eine Informationsquelle, welche Schwerpunkte und Prioritäten ein Projekt setzen sollte. Im Optimalfall ist ein UX-Audit nur ein Baustein der UX-Evaluation. Es sollten immer auch Endanwender*innen einbezogen werden, z. B. in Form von Usability-Tests.
Die Methode der Wahl ist beim UX-Audit meist eine Kombination der heuristischen Evaluation und dem Cognitive Walkthrough. Bei der heuristischen Evaluation bewerten die UX-Professionals die Anwendung zum Beispiel auf der Basis der zehn von Jakob Nielsen entwickelten Usability-Heuristiken. Heuristiken sind allgemein anerkannte Daumenregeln, die für jedes Interface gelten und berücksichtigt werden sollten, um gute Usability zu gewährleisten.
10 Usability-Heuristiken nach Jakob Nielsen
Sichtbarkeit des Systemstatus | Das System sollte die Nutzer*innen immer rechtzeitig und angemessen darüber informieren, was gerade passiert. |
Übereinstimmung von System und Wirklichkeit | Das System sollte die Sprache der Nutzer*innen sprechen, d.h. vertraute Wörter, Phrasen und Konzepte. Es sollte Konventionen der echten Welt folgen, damit Informationen in ihrer natürlichen und logischen Ordnung erscheinen. |
Nutzerkontrolle und Freiheit | Nutzer*innen führen Aktionen oft unbeabsichtigt durch. Es braucht deutlich gekennzeichnete Auswege, wie „Rückgängig“, „Wiederholen“ oder „Esc“. |
Beständigkeit und Standards | Nutzer*innen sollten nicht überlegen müssen, ob unterschiedliche Wörter, Situationen und Aktionen das Gleiche meinen. Konventionen der Plattform oder der Industrie werden eingehalten. |
Fehlervermeidung | Besser als jede gute Fehlermeldung ist ein Design, das Fehler gar nicht erst auftreten lässt. Das System sollte fehleranfällige Situationen vermeiden oder die Nutzer*innen warnen und die Aktion bestätigen lassen. |
Wiedererkennung statt Erinnerung | Durch sichtbare Elemente, Aktionen und Optionen müssen Nutzer*innen weniger im Gedächtnis behalten. Informationen, die für die Verwendung des Systems erforderlich sind, sollten sichtbar oder bei Bedarf leicht abrufbar sein. |
Flexibilität und Effizienz | Abkürzungen (z.B. Kurzbefehle) – verborgen für unerfahrene Nutzer*innen – können die Interaktion für erfahrene Nutzer*innen beschleunigen. Häufige Aktionen sollten individuell anpassbar sein. |
Ästhetisches und minimalistisches Design | Interfaces sollten keine überflüssigen oder selten gebrauchten Informationen enthalten. Jede zusätzliche Information steht in Konkurrenz mit relevanten Informationen und verringert so deren Sichtbarkeit. |
Hilfestellung beim Erkennen, Bewerten und Beheben von Fehlern | Fehlermeldungen sollten in einfacher Sprache (keine Fehlercodes) formuliert sein, das Problem genau beschreiben und eine konstruktive Lösung vorschlagen. |
Hilfe und Dokumentation | Bestenfalls sollte das System keine zusätzlichen Erklärungen benötigen. Trotzdem kann es notwendig sein, Dokumentation bereitzustellen. Dann sind Informationen einfach zu finden und konzentrieren sich auf die Aufgabe der Nutzer*innen. |
Auch das Thema Accessibility wird inzwischen in die heuristische Evaluation mit aufgenommen. Um Faktoren der Barrierefreiheit einer Website oder App zu bewerten, können beispielsweise Accessibility-Testing-Tools herangezogen werden, die auf den WCAG-2.1-Kriterien beruhen. Digitale Barrierefreiheit rückt berechtigterweise immer mehr ins Rampenlicht und ist nicht nur deshalb wichtig, weil es ab 2025 verpflichtende EU-Richtlinien geben wird.
Beim Cognitive Walkthrough nimmt der UX-Professional die Rolle eines*einer Nutzer*in ein und durchläuft ein vorher festgelegtes Szenario in der Anwendung. Hierbei bewertet der UX-Professional, ob und wie einfach eine Aufgabe erreichbar ist, welche Probleme potenziell auftreten können und prüft die Erfüllung der Usability-Kriterien aus der Sicht eines Nutzenden. Zum Beispiel: Kann die Aufgabe ohne Umwege zufriedenstellend erledigt werden? Gibt die Anwendung ausreichend Hinweise und Feedback, um den Fortschritt und die nächsten Schritte zu erkennen?
Die heuristische Evaluation und der Cognitive Walkthrough sind die beiden Hauptmethoden, die beim Audit angewendet werden. Es fließen jedoch immer auch zusätzlich die Erfahrungswerte der Expert*innen mit ein, denn Erfahrungen aus anderen Projekten prägen und erweitern den eigenen Blickwinkel.
Was sind Stärken und Schwächen eines UX Audits?
UX-Audits bieten eine Möglichkeit, schnelles, kostengünstiges Feedback zu erlangen und Usability-Probleme aufzudecken. Es kann der Status quo in Bezug auf Usability und UX ermittelt werden. Dabei bietet ein Audit durch den Vergleich mit standardisierten Heuristiken hohe Objektivität. Externe Expert*innen können eine Anwendung objektiv betrachten, wohingegen interne Personen häufig betriebsblind werden und eine Anwendung im schlimmsten Fall nicht mehr sachlich bewerten können. Expert*innen orientieren sich dabei an passenden Nutzungsszenarien und untersuchen so zum Teil auch die Passung auf die mentalen Modelle der Nutzenden. Bei einem UX-Audit wird eine Anwendung außerdem ganzheitlich, sprich nicht nur UX-, sondern auch UI-Anteile, bewertet. Die Ergebnisse können zügig zur Verbesserung der Qualität herangezogen werden und es können Hinweise zum Umfang der ggf. nötigen Verbesserungen abgeleitet werden.
Da in einem UX-Audit oft nur Mängel aufgezeigt werden, kann dieser als übermäßig kritisch wahrgenommen werden. Daher sollte man auch immer positive Punkte mit in die Auswertung aufnehmen. Ohne einbezogene Nutzer*innen ist unklar, ob angenommene Szenarien dem wahren Workflow entsprechen. Eine praktische Herausforderung je nach Anwendung kann sein, eine entsprechende Testumgebung für das UX-Audit zu schaffen und Zugänge für die Expert*innen zu erstellen. Ein UX-Audit gibt nur einen Überblick über Usability-Probleme, bei komplexen Inhalten ist es schwierig, diese auch hinsichtlich fachlicher Richtigkeit zu beurteilen. Auch deshalb ist es unbedingt zu empfehlen, (zusätzlich) die Nutzerperspektive mit echten Endanwender*innen miteinzubeziehen.
Wie gehen wir bei Centigrade bei einem UX Audit vor?
Bei Centigrade starten wir ein UX-Audit immer mit einem sogenannten Scoping-Workshop. Zusammen mit dem Kunden werden mindestens zwei Nutzergruppen (in Form von Personas) und mehrere (Nutzungs-)Szenarien definiert. Dies ist essenziell, um den relevanten Kontext mitzugeben und einen Cognitive Walkthrough aus Sicht der Nutzenden überhaupt möglich zu machen. Die Szenarien beschreiben jeweils einen realistischen Workflow in dem zu analysierenden System, der geprüft werden soll, weshalb es meist mehrere Szenarien pro Nutzergruppe gibt.
In einem vorherigen Projekt hatten wir für PLUSCARD eine Kundenzufriedenheitsbefragung durchgeführt, bei der herauskam, dass einige Bereiche der Website nicht intuitiv zu bedienen waren. PLUSCARD nahm dies zum Anlass, ein Audit durchzuführen. Auch hier haben wir zunächst einen Scoping-Workshop angesetzt, in dem wir zwei Personas und sieben Szenarien definiert haben. Die Anzahl der Szenarien kam unter anderem durch eine Vielzahl an Zielgruppen der Website sowie unterschiedlichen Bereichen, wie z. B. einem Login-Bereich, zustande.
Bei einem UX-Audit arbeiten wir nach dem Vier-Augen-Prinzip, das bedeutet, dass zwei Researcher*innen die Szenarien aufteilen und diese im Cognitive Walkthrough und der heuristischen Analyse bewerten. Viele Problemfelder tauchen in den Szenarien immer wieder auf. Dieses Vorgehen soll vermeiden, dass gewisse Patterns übersehen werden. Beim PLUSCARD-Audit haben sich dementsprechend zwei Kolleg*innen anhand der Szenarien durch die Anwendung geklickt und die einzelnen Schritte im Handlungskontext des Szenarios im System ausgeführt.
Dabei wird folgendermaßen vorgegangen:
- Dokumentation des festgestellten Mangels
- Zuordnung zu einer oder mehreren verletzten Heuristiken (nach den zehn Heuristiken von Nielsen)
- Zuordnung eines Schweregrades:
- Leicht: betrifft Ästhetik, Benennungen, Größen und Abweichungen davon
- Mittel: betrifft Lesbarkeit, Erkennbarkeit, Umsetzung von UI-Elementen, inkonsistente Verwendung, Symbolnutzung
- Schwer: betrifft Verwendung von UI-Elementen, Non-Compliance zu Standards und/oder Plattform, Verletzung der Selbstbeschreibungsfähigkeit, Lernförderlichkeit, Erwartungskonformität, Fehlertoleranz
Diese Informationen tragen wir in einem Template zusammen, das uns eine deskriptive Auswertung ausgibt: Wie viele Probleme traten insgesamt auf? Welche Heuristiken wurden am häufigsten verletzt? Wie groß ist der Anteil der Schweregrade unter den Mängeln?
Zusätzlich zur Dokumentation werden auch high-level Handlungsempfehlungen formuliert, die zur Behebung des Mangels führen können.
Hier zwei Beispiele aus unserem UX-Audit für PLUSCARD:
Beschreibung des Mangels | Verletzte Heuristiken | Schweregrad | Handlungs-empfehlung | |||
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Auf einer Service-Seite der Website war keine Seiten-Navigation (z.B. in Form einer Breadcrumb) vorhanden -> Nutzer*innen können nicht zurück zur vorherigen Seite | •Übereinstimmung von System und Wirklichkeit •Nutzerkontrolle und Freiheit •Beständigkeit und Standards •Flexibilität und Effizienz | Schwer | Überprüfung von Layout und Konsistenz, Navigationskonzept überarbeiten | |||
Bei der Überprüfung eines Szenarios mit dem Smartphone fiel auf, dass beim Scrollen durch den Inhalt der Startseite bei 320xp Breite die Überschriften abgeschnitten sind. • Ästhetik und minimalistisches Design Leicht Optimierung für mobile Geräte | •Ästhetik und minimalistisches Design | Leicht | Optimierung für mobile Geräte | |||
Nach der Durchführung des UX-Audits bereiten wir eine Präsentation vor, in der wir die schwerwiegendsten Probleme nach Themen sortieren und vorstellen.
Und wie ging es danach weiter? PLUSCARD hat sich dazu entschieden, anhand der identifizierten Probleme das Konzept und das Design der Website zu überarbeiten und auf neue Beine zu stellen. Um die ersten Entwürfe wiederum zu testen, haben sie Endanwender*innen hinzugezogen und Usability-Tests durchgeführt. Dies ist der Idealfall, da, wie oben bereits erwähnt, Nutzer*innen immer zusätzlich miteinbezogen werden sollten – ein UX-Audit ist immer nur ein Baustein.
Fazit
Ein UX-Audit bietet eine gründliche Überprüfung und Bewertung der Usability und UX einer Website oder Anwendung. Ziel ist es, Stärken und Schwächen zu identifizieren und Verbesserungsvorschläge zu entwickeln. Expert*innen betrachten dabei eine Anwendung aus der Sicht der Nutzenden und bewährten Standards mittels der heuristischen Evaluation und eines Cognitive Walkthroughs. Am Beispiel des UX-Audits bei PLUSCARD wird sichtbar, wie sinnvoll das UX-Audit ist, aber auch, dass es in keinem Fall Ersatz für Tests mit echten Nutzenden ist. Insgesamt liefert es wertvolle Erkenntnisse zur Optimierung der Benutzererfahrung.
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