MightyU ist ein außergewöhnliches Forschungsprojekt für Kinder mit Infantiler Cerebralparese, kurz: ICP oder auch CP. ICP ist eine chronische Bewegungsstörung, die durch eine frühkindliche Hirnschädigung ausgelöst wird. Mit den Ansätzen der Gamification und Virtual Reality möchte MightyU erreichen, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen ihre Therapieübungen spielerischer und selbstständiger zu Hause durchführen können. Geschäftsführer Thomas Immich beantwortete in einem kurzen Fragen-Antwort-Interview, wichtige Fragen zum Forschungsprojekt:
Was verstehst du unter „Gamification“?
Der Begriff Gamification ist inzwischen recht gut erforscht und daher auch klar definiert. Als Gamification versteht man „die Anwendung spieltypischer Elemente in spielfremden Kontexten.“ Im Sinne dieser Definition, ist ein Therapiespiel für Kinder strenggenommen somit gar kein Fall von Gamification, weil es keinen spielfremden Kontext gibt.
Wir haben es ja tatsächlich mit einem vollumfänglichen Spiel zu tun! Ein Spiel allerdings welches nicht primär oder ausschließlich der Unterhaltung dient sondern in erster Linie eben dem Therapieerfolg. Diese Art von Spiel wird auch als „Serious Game“ also „Spiel mit ernstem Hintergrund“ bezeichnet.
Ich finde es für das MightyU Projekt aber gar nicht so wichtig, die Grenze ganz genau zu ziehen. Vielmehr verschwimmen die beiden Begriffe gerade bei MightyU sehr stark:
Wir haben zum einen natürliche Spielelemente wie Missionen oder Schwierigkeitssteigerungen – zum anderen setzen wir aber auch bewusst auf spielfremde Aspekte. Beispielsweise setzen wir mit dem Muskelkontraktionssensor von Velamed eine Technologie ein, die ursprünglich gar nicht für den Spielekontext konzipiert worden ist.
Wenn ich Gamification erklären soll, erkläre ich daher meistens weniger was der Begriff bedeutet, sondern was er Gutes bewirken kann.
Der Kern aller spielerischen Aktivitäten liegt meiner Ansicht nach in dem erhebenden Gefühl der Selbstwirksamkeit und des Kompetenzerlebens.
Ist eine Aktivität zu einfach oder gar langweilig, kann man diese durch den bewussten Einsatz von Hindernissen zu einem Spiel umwandeln, also „gamifizieren“. Wenn eines meiner Kinder beispielsweise steif und fest behauptet, dass es fast zusammenbricht auf einer Waldwanderung, dann muss ich nur sagen: „Vorsicht! Nicht auf die Steine treten, sondern nur auf die Wurzeln.“ Und schon geht es wieder weiter – obwohl die eigentliche Aktivität paradoxerweise ja sogar eher noch anstrengender geworden ist.
Aber Gamification wirkt auch umgekehrt: wenn eine Aktivität zu anstrengend ist oder gar überfordert, dann kann man mit Gamification einen leichteren Einstieg in diese Aktivität bieten. Genau diese Richtung haben wir auch für MightyU gewählt, da die von ICP betroffenen Kinder oft nicht nur körperlich sondern auch kognitiv eingeschränkt sind und eine überfordernde Spielmechanik an dieser Stelle ganz schnell zu Frustration führen würde.
Inwiefern kann das helfen, Kinder zu motivieren?
Kinder motiviert es – im übrigen genau wie fast alle von uns – auf der einen Seite etwas Besonderes zu sein, gleichzeitig aber ihren festen Platz als Teil einer größeren Gruppe einzunehmen. Kinder mit ICP leiden im Gegensatz zu anderen Kindern allerdings oft darunter, dass sowohl das eine als auch das andere oft unerreichbar weit weg erscheint. Sie können ihre besonderen Fähigkeiten oft gar nicht einbringen oder gar ausspielen, weil ihr Körper sie daran hindert und dies wiederum macht es ihnen so schwer, einen festen Platz innerhalb einer Gruppe von Menschen oder anderen Kindern ohne Behinderung einzunehmen. Genau diese Frustrationserlebnisse haben wir analysiert und versucht sie in Motivationserlebnisse umzuwandeln. Statt den Kindern mit einem zu schweren Spiel gleich die nächste Überforderung zuzumuten, haben wir ein Spiel-Genre gewählt, welches weder Scheitern noch Konkurrenzverhalten fördert: das sogenannte Kümmer Spiel. Beim Kümmer Spiel geht es gar nicht in erster Linie darum, selbst als Spieler zu wachsen, sondern jemand anderem zum Wachstum zu verhelfen.
In unserem Fall müssen die Kinder einer individuell auswählbaren Kreatur beim Schlüpfen helfen und diesen über einzelne Levels hinweg trainieren und großziehen. Durch ihre Fürsorge gewinnen sie nach und nach einen immer stärkeren Freund fürs Leben, mit dem sie gemeinsam auf ganz besondere Weise Abenteuer bestehen können, die dem Kind alleine versperrt geblieben wären. Sie können mit der Kreatur sodann mit oder gegen ihre Freunde in der echten Welt spielen – aber anders als in der echten Welt ist das Kräfteverhältnis jetzt endlich fair oder gar leicht zu Gunsten des ICP Kindes.
Die Kinder erleben hierdurch eine ganz besondere Art von Kompetenzerlebnis – was meiner Meinung nach der Kerntreiber für Motivation ist: nur durch das stete Zutun des Kindes, kann die Kreatur wachsen und gedeihen. Die Kinder entwickeln sich während des Spiels indirekt selbst zu etwas ganz besonderem und finden durch das gemeinsame Spiel gleichzeitig auch Anschluss an eine größere Gruppe, da ihre körperlichen Einschränkungen im gemeinsamen Spiel plötzlich keine Rolle mehr spielen.
Arbeitet ihr bei euch als Entwickler auch spielerisch? Wenn ja wie?
Ja – ich bin der Meinung, um ein spielerisches Ergebnis zu erzielen, muss man immer auch spielerisches Vorgehen an den Tag legen. Da sollte die Arbeitsumgebung stimmig sein. Jeder der bei Centigrade anfängt, bekommt zur Begrüßung seinen eigenen Pixelavatar als Anlehnung an frühere Adventure Games wie Monkey Island. Zudem hat er bereits eine kleine Einsteiger Nerf Gun auf seinem Schreibtisch liegen, damit er in den spontan stattfindenden Nerf Gun Kämpfen nicht komplett baden geht.
Zudem haben wir hier unseren Aufenthaltsräumen natürlich die obligatorische Tischtennisplatt stehen. Allerdings eine ganz besondere, nämlich eine aus Pappe. Genauso wie unser Flipper-Tisch hier, der auch komplett aus Pappe – in diesem Fall sogar komplett aus Müll – gebaut worden ist. Pappe ist für uns der Inbegriff für Experimentierfreude und eine gute Fehlerkultur. Man kann damit sehr schnell neue Ideen umsetzen, testen und sie auch ebenso schnell wieder verwerfen, also im wahrsten Sinne des Wortes in die Tonne treten. Ausgiebiges Prototyping sowie das Testen neuer Geräte oder Arbeitsergebnisse ist für mich daher immer auch eine Art exploratives Spiel.
Aber es gibt natürlich auch Arbeitsmethoden, die noch viel konkretere Spielelemente beinhalten.
Eine typische Methode für Software Entwickler ist z.B. das sog. „Planning Poker“. Das Ziel beim „Planning Poker“ ist es, zu einer möglichst präzisen Aufwandschätzung einer komplexen Umsetzungs-Aufgabe zu gelangen. Das Spiel wird innerhalb eines Entwicklungsteams gespielt: jeder legt pro Aufgabe verdeckt eine Zahl auf den Tisch, die seiner Meinung nach am besten die Komplexität dieser Aufgabe widerspiegelt. Anschließend werden alle Karten aufgedeckt und der Spieler mit der niedrigsten Schätzung muss mit dem Spieler der höchsten Schätzung vor der gesamten Gruppe argumentieren, warum seine Schätzung die eigentlich realistischere ist. Das macht nicht nur Spaß – es lernen vor allem alle Teammitglieder mit der Zeit, bessere Abschätzungen zu machen.
An dieser Stelle sei aber ein ganz wichtiger Aspekt von Gamification erwähnt: keiner darf gezwungen sein, ein Spiel mitzumachen. Wenn sich jemand beispielweise beim Planning Poker unwohl fühlt, kann er die Abschätzung auch auf herkömmlichem Wege abgeben. Spielen impliziert eben immer auch „Freiwilligkeit und Selbstbestimmung“.
Ein anderes Beispiel ist unser UX Research Rollenspiel, welches Konzepter und Gestalter dafür sensibilisieren soll, nicht alles was an Projektanforderungen auf einen einströmt, immer auch für bare Münze zu nehmen. In dem Spiel muss man durch geschickte Fragetechnik herausbekommen, ob sich beim Gegenüber gerade die Welt so dreht, wie er sie gerne hätte oder ob es sich um eine objektive Beobachtung handelt.
Welches Potential hat „Gamification“ Eurer Meinung nach für die Zukunft? Wie wird die Welt damit in 50 Jahren aussehen?
Wie jeder kraftvolle Ansatz hat auch Gamification die Macht, unsere Welt zum Guten oder zum Schlechten zu beeinflussen. Vor dem Hintergrund aktueller Krisen muss man sich berechtigterweise die Frage stellen, inwieweit der Mensch sich überhaupt länger ins Zentrum seines eigenen Handelns stellen sollte. Gutes Gamification kann Menschen dazu bewegen, sich gesünder zu ernähren, mehr zu bewegen, weniger Plastik zu verbrauchen oder sich online zusammen zu schalten um aktiv gegen ökologische Fehlentwicklung anzukämpfen. Schlechtes Gamification kann dazu führen, dass der Börsenhandel noch schneller vonstatten geht und immer mehr von Zahlen statt von Substanz bestimmt wird.
Ich kann natürlich nicht für alle Entwicklungen sprechen, die in den nächsten 50 Jahren noch durch Gamification zum Guten oder Schlechten hin beeinflusst werden dürften – ich kann nur vorleben und hoffen, dass diejenigen, die mit Gamification neue Technologien oder Services entwickeln, dabei einen guten Wertekompass mit sich führen. Gamification darf niemals zur Instrumentalisierung genutzt werden (egal ob gute oder schlechte Ziele dahinterstecken), sondern sollte Menschen die Möglichkeit geben, ihre verborgenen positiven Potenziale an die Oberfläche zu ziehen. Verhilft man einer Gruppe von Menschen durch Gamification zu einem selbstbestimmteren, aufgeklärteren Leben ohne dabei einer anderen Gruppe von Menschen oder Lebewesen großen Schaden zuzufügen, ist das schon einmal ein guter Anfang.
Aber um zumindest eine kleine Zukunftsprognose zu wagen: aktuelle Entwicklungen im Rahmen von künstlicher Intelligenz werden sicherlich maßgeblich durch Gamification geprägt werden. Gamification wird eine der wichtigsten Methoden werden, über die Menschen ihre Maschinen und digitalen Services smarter machen. Spielen heißt ja immer auch lernen – im gemeinsamen Spiel zwischen Mensch und Maschinen werden somit beide Seiten lernen. Damit werden also sowohl wir als auch unsere Algorithmen schlauer. Die Frage wird sein, wer in diesem Spiel als erster betrügt 😉
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