Zunächst einmal: Industrie 4.0 hat natürlich viel mit Technik, Computern, Software, Maschinen, Internet und intelligenten Datenanalysen zu tun. Diese Einflüsse sind ja an sich nichts neues, sondern in den letzten 30-40 Jahren schon bestimmend in der Industrie gewesen. Wir erinnern uns, wie nach und nach der Computer (oft ein 286er AT), die mechanische Schreibmaschine aus dem Büro verdrängt hat… und mit ihr auch alles was damals dazu gehört hatte vom Tipp-Ex (mit dem speziellen Geruch nach Lösungsmittel) über das Kohlepapier bis hin zu den Farbbändern. Später folgten die ersten Akustik-Koppler Modems, die das Büro „hörbar“ mit dem Internet und Datendiensten verbunden haben. Kurz darauf kamen die Diskussionen, ob und wer denn tatsächlich unbedingt einen Farbmonitor braucht: „Ehrlich? Einen Farbmonitor? Wofür soll das gut sein?“
Also ist uns die Veränderung in der Art und Weise der Arbeit nicht unbekannt – nur vergessen wir schon mal, wie sehr sich die Erfahrung des Benutzers mit einem interaktiven System verändert hat.
Industrie 4.0 – Veränderung ist nicht neu, sondern essentiell
Doch heute geht es um das „4.0“ in „Industrie 4.0“. Denn diese Zahl steht für die Revolution in der Vernetzung von industriellen Komponenten und der damit einhergehenden Digitalisierung von Interaktionen und Informationen, der sich die Industrie gegenübersieht. Ob es wirklich eine Revolution oder doch eher eine Evolution ist, die zu einem Paradigmenwechsel führt, sei dahingestellt – es hängt davon ab, wie die Industrie, die Menschen und die Gesellschaft damit umgehen. Um dieses Thema Industrie 4.0 und UX grundsätzlich zu beschreiben, formuliere ich die folgenden Hypothesen, von denen einige dem geneigten Leser sicher schon bekannt vorkommen:
- Benutzer erwarten ebenso hohe Nutzungsqualitäten in Arbeitssystemen wie in Systemen, die privat genutzt werden.
- Benutzer sind heutzutage weniger bereit, schlechte Nutzungsqualitäten in Arbeitssystemen hinzunehmen.
- Benutzer neigen dazu, neuen Arbeitssystemen weniger zu vertrauen als privat genutzten Systemen (Bsp: die Angst am Arbeitsplatz eigene Meinungen oder Aktivitäten preiszugeben / protokollieren lassen – dazu aber im Gegensatz ohne Probleme ein Foto vom leckeren, laktosefreien Cappuccino an der Strandbar in Büsum zu posten).
- Industrie 4.0 fordert die Umgestaltung der bestehenden Berufsbilder.
- Industrie 4.0 bedingt eine neue Strategie der Kommunikation von Menschen und Maschinen, sowie von Menschen untereinander.
Nanu! Diese letzte Hypothese klingt so gar nicht nach „Industrie 4.0“, nach Innovation und Digitalisierung. Soll Industrie 4.0 mir jetzt auch vorschreiben, mit wem ich reden darf? Schreibt mir irgendein geheimnisvolles Industrie 4.0 Gremium mit ebenso geheimnisvollem Headquarter in den Höhlen der Schwäbischen Alb einen Sprachkodex zur Digitalisierung mit vielen Lehnwörtern aus dem Englischen, Denglischen und Beamtendeutsch vor? Reden wir in der Wirtschaft dann nur noch so wie: „Im Rahmen der Einlassung des Projektantragstellers wird der Increase of Efficiency für Handy und Portable-Usage im Rahmen der Motion “Super-Push-4-Market“ für Innovationen der Man-Robot-Interaction unter den folgenden Schlüssel-KPIs engaged:“ (ich höre ja schon auf, mir tut das ja auch weh…)
Nein – so „einfach“ ist es natürlich nicht. Mit Begriffen um sich werfen ist tatsächlich die naheliegende Möglichkeit. Billig, einen allgemeinen Konsens heuchelnd und in der Regel völlig bedeutungslos – Industrie 4.0 durch Marketing-Wortplatzhalter, das ist immer noch weit verbreitet. Dadurch wird aber in der Konsequenz das Thema geschwächt, beliebig und nicht mehr steuerbar.
Aber wir sehen uns einer ganz anderen Herausforderung gegenüber. Im Kontext der Veränderungen bei Industrie 4.0 verorten wir das Handlungsfeld „zwischenmenschliche Prozesse und Kommunikation“ in der Systemergonomie und im Personalwesen. Nicht wenige Industrie 4.0-Verantwortliche hat dieses Thema überrascht – geht es bei der Digitalisierung denn nicht nur um Technologie & Vernetzung? Nein, tatsächlich geht es, wie bei allen Themen, bei denen der Mensch eine essentielle Rolle spielt, um die ergonomische Dimension der Interaktion zwischen Mensch und System. Wenn Maschinen, intelligente Bots und Assistenten dem Menschen Arbeit abnehmen, wenn sie Kommunikationskanäle übernehmen oder wenn Konsensbildung auf Grundlage von Daten und Algorithmen basiert, verändert sich zwangsläufig der Charakter der zwischenmenschlichen Kommunikation. Anstatt sich über einzelne Arbeitsschritte oder die Datenqualität auszutauschen, Arbeitsanweisungen zu erteilen oder korrigierende Informationen einzuholen, wird sich die Kommunikation zu einem Kanal der Metainformation ausprägen. Das bedeutet, dass Information zwischen Menschen nicht so sehr das Produkt sondern das System auf einer höheren Abstraktionsebene beinhalten wird. Ein Beispiel aus der „Steinzeit“ der Computer soll das verdeutlichen. Ein Benutzer musste damals mittels Kommandozeile einem System mitteilen, welche einzelnen, spezifischen Parameter ein Befehl (SORT) benötigt, um ein spezielles Ergebnis zu erzeugen:
SORT /R /+2 d:\samplesort.txt /O d:\output.txt
Heute ist das über natürliche Sprache im digitalisierten Umfeld möglich – kommuniziert wird die Methode der Sortierung, nicht mehr eine Vielzahl an Befehlen:
„Sortiere die Einträge in Samplesort nach dem 2. Buchstaben rückwärts und speichere das Ergebnis in die Datei Output.“
Diese Spannweite zwischen einer reglementierten, formalisierten und sehr reduzierten Kommandosprache und der natürlichen, lebendigen Sprache ist auch durch das folgende Beispiel zu fassen:
Für das Betriebssystem DOS der 80er Jahre gab es 78 Wörter, die rein als Anweisungen fungierten. Der Vorgänger CP/M kannte in der Version 3 insgesamt nur 32 Befehle. In der Kommandosteuerung-Applikation (Eingabeaufforderung) von Windows 10 sind es hingegen 85, in der sogenannten PowerShell (der „Kommandozeilen-Version“ des Windows 10 Betriebssystems) sind es 485 Befehle, die weiterhin mit einer eigenen Skriptsprache einhergehen.
Demgegenüber stehen die natürlichen, gesprochenen Sprachen, deren Wortschatz ganz andere Dimensionen hat. Im Englischen zwischen 500.000 und 600.000 Wörtern, im Deutschen um die 500 000, im Französischen um die 350 000.

Beispielbefehle eines Assembler Codes. Diese Abstraktion von Befehlen zur Programmierung eines Systems führte in früheren Formen der Mensch-Maschine-Kommunikation de facto zu einer Ausgrenzung von „Laien“
Lasst Sprache ihre Arbeit machen
Sprache alleine löst das Problem einer neuen Mensch-Maschine-Kommunikation noch nicht. Denn Sprache ist ohne Kontext sinnlos und nicht aufgabenangemessen. Dabei sind nicht nur die naheliegenden Homonyme wie „Reif“, „Kiefer“, „Hahn“ gemeint. Menschliche Sprache ist wunderbar ungenau… und erlaubt Interpretationen und Adaptionen an die unterschiedlichen Lebenssituationen.
Auch hier einige Beispiele
„Wie wird morgen das Wetter?“ – das ist ja erst mal eine einfache Frage. Allerdings füllen wir durch unseren gelernten sozialen im Kontext einer Konversation wichtige Informationen ein. So ist der Ortsbezug nicht explizit genannt… zielt die Frage auf die aktuelle Position, in der sich der Fragende befindet? Oder ist die Frage allgemeiner gehalten? Auf der anderen Seite nehmen wir an, dass der Gefragte weiß, welcher Tag heute und welcher Tag morgen ist – das Datum darf also als bekannte Größe vorausgesetzt werden.
„Welches Angebot ist besser?“ – Ganz spannend, denn diese kurze Frage ist nicht so einfach zu beantworten, wenn wir die Kriterien für „besser“ nicht kennen. Sollen wir Angebote nach Preis, Leistung, Verfügbarkeit etc. abwägen? Und wie bewerten wir die einzelnen Merkmale? Was ist mir wichtig?
Aufgaben, die jenseits des 0/1, Ja/Nein, An/Aus, Wahr/Falsch liegen, brauchen einen klare semantischen Bezug. Sprache leistet hier einen großen Beitrag. Aber wir müssen über die reine Spracherkennung hinausdenken. Wenn wir den Sinn der Sprache als Konversationsmittel verstehen, bedeutet das für die Mensch-System Interaktion nicht mehr die Beschränkung auf das Mittel zur Benennung von Dingen oder als „Kommando“, sondern als Dialogform von Rede und Antwort.

Interaktionstechniken – zunehmender Freiheitsgrad in der Interaktion und einhergehender Kontrollverlust durch Dritte über die Interaktion durch die Flexibilisierung der Interaktion.
Anhand der Sprache können wir auch den Kontrollverlust Dritter über die Interaktionen festmachen: Wenn ich einem Bediener 10 Befehle zur Interaktion mit einem System anbiete, kann ich sicher sein, dass tatsächlich nur diese 10 Befehle zum Einsatz kommen werden. Jede Abweichung führt zum Fehler und zur Nichterfüllung einer Aufgabe. Werden jedoch alternativen zum Kommando (z.B. Direkte Manipulation mit einem Zeigegerät, synonyme Befehle etc.) ermöglicht, kann ich nicht mehr sicher sein, welchen Weg der Benutzer gewählt hat, um eine Aufgabe zu lösen. Daher streben einige Lösungsanbieter zu einer irgendwie gearteten Formalisierung von Interaktionen, die aufgrund der aktuellen technologischen Marktkonventionen allerdings in sehr unterschiedlichen Interaktionstechnologien angeboten wird. Resultat dieses Spagates sind u. U. Assistenzsysteme, die unter dem Prätext einer „Unterstützung mit modernsten Methoden“ nichts anderes abbilden als Befehle, die ein eindeutiges Ergebnis erzeugen.
Fazit
Zusammenfassend ergibt sich heute, im Eindruck zunehmender Flexibilisierung von Interaktionstechniken, ein Bild von einer extremer werdenden kontextabhängigen Gestaltung von Mensch-System-Interaktion. So lässt sich „die Software“ immer weniger vom Gesamtsystem lösen und als eigene Einheit neben die Arbeitssituation stellen. Stattdessen werden die Schnittstellen zwischen Mensch und System, über die Kommunikation und Interaktion stattfinden, granularer und filigraner. Die eingesetzten Technologien entwickeln sich weiter, werden „intelligenter“ und bedürfen einer strategischen Planung des Gewollten, nicht des Machbaren. Im Rahmen der UX Strategie eines Unternehmens sind diese Technologien als fachliche Kompetenz innerhalb der Organisation zu verstehen, zu planen und zu implementieren, um nicht als Getriebene der Digitalisierung, sondern als deren Gestalter zu wirken.