Auch im Jahr 2024 gibt es noch Unternehmen, die der Meinung sind, sie bräuchten kein User Research, um neue digitale Produkte zu entwickeln, denn „wir kennen doch unsere Kund*innen und wissen am besten, was sie brauchen.“ Die meisten User Researcher*innen dürften dieser oder ähnlichen Aussagen schon begegnet sein und sich darüber die Haare gerauft haben. Solche Behauptungen führen oft zu langwierigen Diskussionen und es bedarf einer großen Überzeugungsarbeit, um Skeptiker*innen von der Notwendigkeit und dem positiven Impact von User Research zu überzeugen. Geht das nicht auch einfacher? Anstatt sich im Kreis der gewohnten Argumente zu drehen, ist es an der Zeit, den Kritiker*innen das Problem des fehlenden User Researchs auf spielerische Weise näherzubringen. Studien belegen, dass spielerisches Lernen nicht nur bei Kindern effektiv ist [1][2]. Genau aus diesem Grund haben wir das interaktive User Research Spiel „You Don’t Know Your User“ entwickelt. Durch eine geschickte Anwendung verschiedener User Research Methoden, wie Interviews oder Beobachtungen, lernen die Teilnehmenden auf unterhaltsame Weise, wie User Research zu einem vertieften Verständnis der echten Bedürfnisse der Nutzenden beitragen kann.
Aufbau des User Research Spiels
In dem Spiel tauchen die Spielenden in die Arbeit eines User Researchers in einem UX-Unternehmen ein. Dieser hat den Auftrag, die Bedürfnisse von Nutzenden zu überprüfen. Der fiktive Auftraggeber stellt ein Ist-Szenario – also den aktuellen Zustand – zum Ablauf und den Bedürfnissen der Nutzenden für das jeweilige Produkt bereit. Doch Achtung! Dieses Szenario basiert nur auf den Annahmen des Auftraggebers. Es liegt nun an den Spielenden zu ergründen, ob die Nutzenden tatsächlich die angenommenen Bedürfnisse haben.
Ziel des Spiels ist es, möglichst viele Punkte zu sammeln, indem die Spielenden versuchen, die Bedürfnisse der Nutzenden zu verifizieren, zu falsifizieren oder weitere Bedürfnisse zu identifizieren. Dabei ist es besonders wichtig, das zentrale Nutzerbedürfnis (Core User Need) zu identifizieren, da es als Grundlage für die spätere Designlösung dient und daher auch die meisten Punkte einbringt. Doch wie im echten Leben stehen dafür nicht unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung. Es muss also geschickt gewählt werden, welche Researchmethode wann sinnvoll ist, um den Erkenntnisgewinn zu maximieren und Ressourcen effizient einzusetzen.
Die möglichen User Research-Methoden
Es gibt eine Vielzahl an Methoden, die in der Nutzerforschung zum Einsatz kommen können. Da das Spiel nur einen ersten Einblick in das Feld des User Research bieten soll und die Notwendigkeit von Research verdeutlichen möchte, haben wir uns jedoch auf drei Methoden beschränkt, die häufig zum Einsatz kommen und die wir auch selbst in unserer täglichen Arbeit bei Centigrade häufig einsetzen:
Beobachtung
Diese Methode liefert Informationen, die durch Beobachtungen im realen Kontext der Zielgruppe gesammelt werden können, wie zum Beispiel zum Verhalten einer Person oder den Umgebungsfaktoren. Sie ist sehr zeitaufwendig und daher auch die kostspieligste Methode im Spiel. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass man dadurch auch die meisten Informationen erhält. Gedanken und Gefühle können durch diese Methode zum Beispiel nur indirekt erschlossen werden.
Interview
Diese Methode liefert Aussagen zu einer Situation, wie sie typischerweise in einem Gespräch vorkommen. Sie erfordert oft weniger Zeit als eine Beobachtung und ist deshalb auch kostengünstiger. Hierbei muss man sich allerdings auf die Aussagen der Nutzenden verlassen und darauf, dass sie ihre Beweggründe artikulieren können.
Umfrage
Diese Methode umfasst kurze Aussagen zu einer Situation, wie sie in einem Fragebogen vorkommen können. Ein Fragebogen ist in der Regel weniger zeitintensiv und vor allem kosteneffizienter als eine Beobachtung oder ein Interview. Allerdings ist es bei dieser Methode nicht möglich, Nachfragen zu stellen, was die Interpretation und den Informationsgehalt einschränken kann.
Ablauf des Spiels
Das Spiel wird in Runden gespielt. Die Person, die zuletzt an einem Research teilgenommen hat, beginnt in der Rolle des Researchers. Basierend auf dem vorliegenden Szenario wählt sie für die einzelnen Schritte jeweils aus, welche Methode(n) angewendet werden sollen. Dafür werden die entsprechenden Einheiten vom Budget des Researchers abgezogen, und die andere Person berichtet – je nach Methode – in der Rolle der Nutzer*in über die jeweilige Situation. Ist das Budget aufgebraucht oder ist der Researcher der Meinung, dass alle wichtigen Informationen gesammelt wurden, werden die Rollen gewechselt. Anschließend versucht die andere Person, ihr jeweiliges Szenario zu überprüfen. Am Ende wird gemeinsam ausgewertet, welche User Needs korrekt identifiziert wurden. Für jeden identifizierten User Need gibt es Punkte und die Person mit den meisten Punkten gewinnt das Spiel – und weiß nun hoffentlich den Wert von User Research (noch) mehr zu schätzen.
Entwicklung des Spiels
Nach der ersten Idee wurde über die vergangenen zwei Jahre viel getüftelt, um das Spiel für eine möglichst breite Zielgruppe zu optimieren. Ein zentrales Element dabei ist das Szenario bei „You Don’t Know Your User“. Es bildet die Grundlage für das Vorgehen des Researchers, umso wichtiger ist es also, ein passendes zu finden. Das erwies sich jedoch als schwieriger als anfangs gedacht. Nutzungsszenarien im Kontext der Entwicklung digitaler Produkte sind oft sehr spezifisch und in der Regel nicht für den Einsatz außerhalb des Projekts vorgesehen. Zudem sind die Szenarien meist nur für eine bestimmte Personengruppe relevant und für Außenstehende schwer verständlich. Gefragt sind also Szenarios, die allgemein bekannt sind oder in die sich zumindest jeder schnell hineinversetzen kann.
Es gab zunächst mehrere interne Testläufe mit verschiedensten Szenarien, von selbst entwickelten bis zu vollständig mit ChatGPT generierten. Die Nutzung von KI bei der Erstellung von Szenarien stellte sich jedoch als weniger hilfreich heraus als erwartet. Die KI-generierten Szenarien waren oft zu allgemein gehalten. In den internen Tests zeigte sich, dass KI zwar gute Ansätze liefern kann, es aber menschliche Feinabstimmung braucht, bevor die Szenarien wirklich spielbar sind.
Im September letzten Jahres fand dann unser erster öffentlicher Testlauf auf der Mensch und Computer 2023 mit zwei Szenarien aus der Filmindustrie statt. Das Spiel wurde positiv aufgenommen und wir erhielten viel konstruktives Feedback. Einer der Vorschläge war eine Kostenanpassung der einzelnen Research-Methoden sowie die Idee, das Spiel in Blöcken zu spielen, anstatt nach jeder Frage die Rollen zu tauschen. Genau solche Rückmeldungen wollten wir mit den Testläufen erreichen – quasi User Research am User Research Game. Die Anmerkungen haben wir uns zu Herzen genommen und neben einigen Regel- und Ablaufanpassungen auch zwei ganz neue Alltagsszenarien entwickelt, in die sich jeder leicht hineindenken kann: eine Fahrt in den Urlaub und die durch die Corona-Pandemie populär gewordene Remote-Arbeit. Diese Szenarien wurden bereits erneut getestet und erlebten ihre Premiere auf der Konferenz DD & UX Next im April. Doch es gibt natürlich immer Verbesserungspotenzial, weshalb wir auch das Feedback der Teilnehmenden der DD & UX Next sehr ernst nehmen und das Spiel kontinuierlich verbessern werden. Schließlich soll „You Don’t Know Your User“ alle Kritiker*innen endgültig und ein für alle Mal von User Research überzeugen.
„You don’t know your AI“ – Die Zukunft von „You don’t know your User“
Die aktuelle Version des Research Spiels lässt sich sowohl als klassische Pen-&-Paper-Version als auch am PC durch das Ausfüllen von PDFs spielen. Eine Voraussetzung ist jedoch, einen Gegenüber zu haben, der seine schauspielerischen Fähigkeiten als Nutzer*in unter Beweis stellt. Um das Spiel unabhängig von menschlichen Mitspielenden und deren schauspielerischen Talenten zu machen, ist das nächste Ziel für uns die Digitalisierung: Wir planen einen Chatbot zu entwickeln, der mithilfe von KI realistisch auf die vom Researcher gestellten Fragen antwortet. So kann jede Person das Spiel zu jeder Zeit genießen und einen noch realistischeren Einblick in die Welt des User Research gewinnen. Dabei werden wir das gesammelte Feedback einfließen lassen und so den nächsten Entwicklungsschritt von „You Don’t Know Your User“ zu „You Don’t Know Your AI“ vollziehen – und natürlich in einem Blogartikel darüber berichten.
[1] Clark, D. B., Tanner-Smith, E. E., & Killingsworth, S. S. (2016). Digital Games, Design, and Learning: A Systematic Review and Meta-Analysis. Review of Educational Research, 86(1), 79-122. https://doi.org/10.3102/0034654315582065
[2] Karakoç, B., Ery?lmaz, K., Turan Özpolat, E. et al. The Effect of Game-Based Learning on Student Achievement: A Meta-Analysis Study. Tech Know Learn 27, 207–222 (2022). https://doi.org/10.1007/s10758-020-09471-5
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