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IoT erobern mit Lean UX – Teil 2

Kai Deller
29. März 2018

Vor kurzem hat mein Kollege Simon Kieke im ersten Artikel dieses Zweiteilers ein spannendes Fazit zu der Bedeutung von IoT für den Mittelstand gezogen. Statt einer „Alles oder Nichts“ Mentalität, schlägt er vor, im Kleinen und auf der Basis von Nutzerbedürfnissen digitale Services in Bestandsprodukte einzuweben. So entstehen kleine IoT Produkte ohne große Risiken, die einen unmittelbaren Nutzermehrwert bieten. Hinter diesem Verständnis von Produktentwicklung steckt das Prozessrahmenwerk Lean UX und die bereits im letzten Artikel beschriebene Kernmethode des Minimum Viable Products (MVP). Aber wie genau definiert man ein MVP und wie lässt sich der Projektverlauf durch andere Lean Methoden weiter risiko- und komplexitätsreduziert treiben?

In diesem zweiten Teil der Reihen möchte ich gerne an einer konkreten Projektgeschichte aus dem Bereich Produktdesign, den Einsatz verschiedener Lean Prinzipien exemplarisch verdeutlichen. Diese ist im Rahmen meiner Lehrtätigkeit in dem Seminar „Designing the User Experience for Ubiquitous Computing Devices“ an der Universität des Saarlandes mit einer Gruppe von Informatikern ohne Designhintergrund entstanden.

Umfeld der Projektgeschichte ist eine Gastronomieküche. Dieser Kontext wurde von den Studenten frei im Zuge einer fiktiven „Start Up“ Gründung gewählt.

Der ausgewählte Kontext für das „Start Up“ (Quelle: https://pixabay.com/de/küche-arbeit-restaurant-kochen-731351/)

Der Protagonist: Ein Gastronomiekoch in einer Restaurantküche, der sich vor allem auf das Anbraten von Steaks spezialisiert hat. Als Ziel der Unternehmung sollte die Zahl von Fehlern beim gleichzeitigen Kochen unterschiedlicher Fleischgerichte reduziert werden.

Schlüsselszenario von Kennedy Lemeux

Die in diesem Rahmen entstandene Schlüsselpersona (=Prototypischer Nutzer aus der Zielgruppe) Kennedy Lemeux, ist 30 Jahre alt und seit Kurzem verheiratet. Das Schlüsselszenario (=Typischer Tagesablauf der Schlüsselpersona) beginnt mit der für ihn erfreulichen Botschaft, dass ihm seine Frau von ihrer Schwangerschaft berichtet. Während er in der Küche beschäftigt ist schweifen seine Gedanken demnach öfters mal ab …

Das führt zu Problemen, denn heute ist ein besonders geschäftiger Tag und er muss außergewöhnlich viele Gerichte zubereiten. Dazu gehören auch einige gute (und teure) Steaks, die er zeitgleich überwachen muss. In Gedanken schon bei dem neuen Familienglück, verpasst er leider den richtigen Garzeitpunkt – sehr zum Ärger seines Chefs. Schade für Kennedy – eigentlich hätte es doch der perfekte Tag werden können.

Sicherlich gibt es hier professionelle Küchensysteme, die unter anderem auch für diesen Fallstrick eine (integrierte) Lösung bereitstellen. Doch ein solches System gibt es nicht in jeder Küche und so auch nicht bei unserem Koch Kennedy. Gäbe es nicht auch eine kleinere, leichter umsetzbare Lösung – ein MVP – für sein Problem?

Ein MVP zu definieren ist keine leichte Aufgabe. Aus diesem Grund sollte man das MVP des Projektes vor Beginn „kurz und knackig“ definieren. Dies geschieht im sog. MVP-Statement, welches die Zielrichtung des Projektes in einem einfach verständlichen Satz formuliert:

“Mit dem Release des Produktes Ende August 2017, wird Kennedy Lemeux in der Rolle des Souschefs darauf hingewiesen, dass ein Steak seiner Aufmerksamkeit Bedarf, um zu verhindern das ihm bei der parallelen Arbeit ein Steak misslingt.“

Erkennbar wird hier ein nachvollziehbares menschliches Bedürfnis, dessen Lösung der Zielgruppe einiges an Frustration ersparen würde. Der fremden Domäne und der Komplexität von IoT-Projekten wird durch ein fokussiertes und benutzerzentriertes Projektziel entgegengewirkt.

Lean Prinzip: Gemeinsames Verständnis

Das kollektive und wachsende Projektwissen muss allen Teammitgliedern schnell und einfach zur Verfügung gestellt werden. Dabei handelt es sich zu Beginn um den Kontext, den Nutzer und seinen (Arbeits-) Alltag. Arbeitsergebnisse wie eine Persona, ein Szenario (in Prosa & als Comic) und ein MVP-Statement bringen diesen Zusammenhang standardisiert und prägnant auf den Punkt. Durch diese Designmethoden ist das Team über das Ziel des Projektes informiert und wird von hier in die gleiche Richtung laufen. Los geht’s!

Nutzerforschung

Nutzerforschung lässt sich sehr aufwendig und zeitintensiv durchführen. Unser Projekt ist jedoch bereits im Ursprung „Lean“ und wir wollen natürlich auch in der Analyse schnell und schlank agieren. Insofern sollte Nutzerforschung nicht willkürlich „in der Breite“ stattfinden. Stattdessen müssen für das Projekt kritische Fragestellung explizit in Form von Annahmen notiert werden. Das Beseitigen dieser „Unsicherheiten“ stellt einem unschätzbaren Projektwert dar.

Lean Prinzip: Annahmen vor Anforderungen

Bevor etwas zu einer harten „Anforderung“ werden kann, muss ihr Wert für den Endnutzer bestätigt werden. Erst dann sollten Ressourcen auf Ihre Realisierung gebucht werden. Selbst ein erfahrenes Team kann nicht alles über eine Zielgruppe und Ihre Arbeitsabläufe wissen. Eine Produktgestaltung, die auf falschen, nie ausgesprochenen Annahmen aufbaut, kann ihr Ziel verfehlen und im (Arbeits-)Alltag nicht nahtlos oder überhaupt einsetzbar sein.

Wir überprüfen Annahmen durch Nutzerforschung.

Der Begriff „Minimum Viable“ Research mag zwar eine Wortneuschöpfung darstellen, scheint aber mit Blick auf Lean Prinzipien (semantisch) lange überfällig. In dem oben genannten Seminar hatten wir Glück: Ein Teilnehmer hatte einen Koch in seinem Bekanntenkreis, was hier „Minimum Viable Research“ im wahrsten Sinne des Wortes ermöglichte. Die Erkenntnisse aus einem kurzen Telefonat haben das Projekt nachhaltig geprägt und Designmöglichkeiten aufgedeckt, die sonst niemals diskutiert worden wären.

Nun kann man natürlich nicht immer davon ausgehen, dass man persönlich jemanden aus der Zielgruppe kennt. Hier gilt es, pragmatisch zu sein. Der zentrale Zweck von User Research ist, unbekannte Stolpersteine aufzudecken, bevor man darüber fällt. Dafür können auch andere (unkonventionelle) Methoden verwendet werden:

  • In fachspezifischen Internetforen können Informationen gesammelt oder sogar eigene Fragen gestellt werden.
  • Auch die sozialen Medien erlauben eine neue Art der Vernetzung über den eigenen Bekanntenkreis hinweg
  • Ein Rollenspiel kann zu neuen Erkenntnissen führen, die erst in der konkreten Situation auffallen. Ähnlich verhält es sich mit einem kognitiven Durchgang (engl. Cognitive Walkthrough)

Lean Prinzip: “Get Out of the Building”

Während die oben genannten Methoden auch vom eigenen Arbeitsplatz ausgeführt werden können, lässt sich die Bedeutung von Vor-Ort Besuchen nicht genug hervorheben. Dabei sollte man aber nicht dogmatisch sein: nicht in jedem Unternehmen lassen sich Besuche bei Nutzern unmittelbar organisieren. Kleine Erfolge durch o.g. Methoden helfen aber bei dem Aufbau einer Argumentationsbasis und erlauben zeitgleich dem Endnutzer früh und effizient „Gehör zu schenken“ oder zumindest Empathie aufzubauen.

Ideation

Lösungsskizzen aus dem Design Studio

Aufbauend auf den Erkenntnissen geht es nun in die Ideenfindung. Hier bietet sich eine Methode mit dem Namen „Design Studio“ an, die es erlaubt in kürzester Zeit viele Lösungsansätze im Verbund des gesamten Teams zu generieren.

Die Paarung zwischen User Need und Persona bietet hier das ideale Korsett, um den kreativen Prozess sinnvoll auszurichten. Jeder Teilnehmer generiert in dieser Methode zunächst alleine erste Ideen. Nach Ablauf einer festgelegten Zeit stellt jeder Teilnehmer seine Ideen vor und erhält Feedback vom Rest der Gruppe. Anschließend gehen die Teilnehmer erneut in den individuellen Denkprozess. Durch das Feedback bzw. die Vorstellung anderer Ideen wird die Interaktion im kreativen Prozess stark strukturiert. Am Ende können die Ideen mit kleinen Aufklebern oder Markern bewertet werden. Die Ideen mit den meisten Punkten schaffen es dann in die nächste Runde.

In unserer Fallstudie wurde die Idee der „Kitchen Bell“ auf diese Weise erarbeitet. Ein Timer für Gastronomieküchen, der sich auch mit vollen Händen bedienen und sich schnell auf die unterschiedlichen Garzeiten des Steaks einstellen lässt.

Interessanterweise: Schon aus dem eng gefassten und gut beschrieben Problem weiter oben drängt sich die Lösung fast auf und erscheint damit für alle Gruppenmitglieder plötzlich offensichtlich und alternativlos.

Lean Prinzip: Anti-Muster – Rockstars, Gurus & Ninjas

Interdisziplinäre Teams sind im IoT ein Muss. Schließlich müssen Software, Hardware & Services zu einem Gesamtprodukt kombiniert werden. Um Wissenslücken zu vermeiden (siehe oben) sollte das gesamte Team gerade bei der initialen Ideenfindung beteiligt sein (im Gegensatz zum „hero-based design“). Kollaborative Kreativmethoden wie das Design Studio eignen sich besonders gut, um auch nicht-Designer ins Boot zu holen und damit zu gewährleisten, dass alle Ideen gleichermaßen Gehör finden. Das erweitert nicht nur den Horizont und die Bandbreite der Ideen, sondern erhöht auch die Identifikation mit dem Produkt. Eine starke Teamausprägung & Kollaboration ist die Grundlage für eine schnelle und effiziente Projektführung.

Rapid Prototyping

Ein ebenfalls beliebter Begriff im Kontext der Lean Prinzipien ist Rapid Prototyping. Dieser lässt sich natürlich nur dann sinnvoll praktizieren, wenn die zugrundeliegende Idee auch klein genug ist; und zwar so klein, dass sie sich schnell und einfach prototypisch umsetzen lässt. Ohne ein gut gefasstes MVP lässt sich die Methode kaum praktizieren.

Ergebnisse des Rapid Prototypings

Mit der groben Idee aus der letzten Phase gilt es nun, diese in jedem Detail zu durchdenken. Wie genau stellt der Koch den Timer ein? Wie wird er dazu aufgefordert das Steak zu wenden? Wie ist das Gerät verbaut bzw. wo ist es positioniert? Wie kann gewährleistet werden; dass man das Signal der Kitchen Bell in jedem Fall auch wahrnimmt?

Aufbauend auf den Ergebnissen aus dem Design Studio wurden verschieden Varianten prototypisch exploriert und auch hinsichtlich des „Spaßfaktors“ (engl. Joy of Use) bewertet. Dazu gehörte eine einfache Vorrichtung mit drei Schaltflächen, eine intelligente Steak-Pfanne mit der sich die Garzeit über die Ausrichtung des Griffs einstellen ließ und zuletzt eine Vorrichtung, die an der Dunstabzugshaube befestigt wurde und sich mittels einer Wischgeste parametrisieren ließ. Die drei Garzeiten (Rare, Medium & Well-Done) sollten über die Höhe der Wischgeste eingestellt werden.

Lean Prinzip: Fail Early

Frühes Scheitern stellt im Lean Thinking keinen Misserfolg dar. Indem wir früh scheitern, erhalten wir neues Wissen, welches wir wieder in die Produktgestaltung einfließen lassen können. Scheitern können wir bereits während der Nutzerforschung, wenn wir feststellen, dass unser Nutzerbedürfnis in der Realität gar nicht existiert. Haben wir diese Hürde jedoch bestanden können wir Ideen intern „auf den Prüfstand“ stellen, ohne uns in lange Diskussionen zu verstricken. Einfache und schnelle Prototypen können Probleme in unserem Design aufdecken, bevor wir unser MVP an einen Testkunden ausliefern (und dort zwangsläufig, aber viel später zu der gleichen Erkenntnis kommen). So hilft Prototyping, Ideen besser zu beurteilen und ggf. „sterben zu lassen“, bevor sie erhebliche Entwicklungskosten und im schlimmsten Falle Reputationsverluste nach sich ziehen, wenn zum Beispiel ein schlechtes Produkt an Kunden ausgeliefert worden ist.

Umsetzung

7-Segmentanzeige mit Ultra Sonic Sensor (links) und LED Streifen mit Batterie Status (rechts)

Elektrotechnisch betrachtet ist die Kitchen Bell unglaublich simpel. Eine 7-Segementanzeige, ein LED Streifen und ein Abstandssensor bilden den Kern der Hardware. Trotz der trivialen Umsetzung, steckt jedoch eine ganz eigene Geschichte und ein bewusst gewähltes Nutzerbedürfnis hinter den einfachen Schaltplänen.

Durch einen 3D Drucker lässt sich für die Hardware schnell ein passendes Gehäuse drucken. In diesem Fall eine Hülle mit magnetischer Oberseite, die schnell am Arbeitsplatz aufgehängt werden kann. So kann das Produkt direkt und im realen Umfeld getestet werden.

3D Druck und finales Produkt

Product Test

Oftmals erhält man authentisches Feedback erst dann, wenn man einen Nutzer das Produkt im (Arbeits-) Alltag verwenden lässt. Dabei gibt es ein einfaches Benchmark: Wird das Nutzerbedürfnis erfüllt?

Klassische Low-Fi Testing Methoden wie Pen & Paper Testing eignen sich leider weniger, um komplexe, haptische Produkte zu evaluieren. Bei solchen wird oftmals eher das Konzept und weniger das Produkt getestet.

Da der komplette Prozess von der Analyse bis hin zum ersten MVP auf Agilität und Schnelligkeit ausgelegt ist, wird das neue Wissen nun in den nächsten Entwicklungszyklus eingegossen.

Im Falle des Seminars hatten wir uns Feedback für das MVP in der benachbarten Mensa eingeholt. Demnach wäre der Einsatz des Produktes durchaus vorstellbar!

Lean Prinzip: Build, Measure, Learn

Sicherlich eine der zentralen Säulen von Lean UX. Ob nun durch Prototyping, Product Tests oder weitere Verfahren sollen neue Erkenntnisse immer wieder in den Entwicklungsprozess einfließen. Dies hilft, die Marschrichtung in kurzen Zyklen zu alignieren und vermeidet, dass zu lange an der Realität vorbei gearbeitet wird.

Zusammenfassung

Ob man als Team „in die richtige Richtung läuft“, lässt sich nur herausfinden, indem man sein Produkt zeitnah gegen ein vorher extrahiertes Nutzerbedürfnis testet. Schnelligkeit ist auch insofern von großer Bedeutung, da in moderner (Software-) Entwicklung Code bereits früh und agil geschrieben wird. Dabei führt ein kleiner und abgegrenzter Projektfokus nicht nur schneller zum Ziel, sondern fördert auch interessantere Designideen. Diesen Fokus gilt es vor allem durch mehr Kreativität bei der Anwendung von Methoden tief zu ergründen.

Lean Prinzipien helfen aber vor allem einen Einstieg in das große Feld „IoT“ zu finden. Sie minimieren das Risiko durch einen schmalen Fokus, explizites Know-How Management und ein frühes Involvement der Endnutzer. Gleichzeitig wird die Produktschöpfung nicht technisch, sondern auf Grundlage von echten, menschlichen Bedürfnissen getrieben. Durch kontinuierliches Lernen können wir hoch komplexe Projekte immer wieder richtig alignieren.

 

Quellen

Lean UX: Designing Great Products with Agile Teams [Buch] / Verf. Jeff Gothelf Josh Seiden. – [s.l.] : O’Reilly Media, Inc, 2016.

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