Computerspiele sind dazu da, Spaß und Unterhaltung zu verbreiten sowie den Spieler zu motivieren, langanhaltend zu spielen. Da liegt es nahe, diese Mehrwerte nicht nur in der Unterhaltungsbranche zu nutzen, sondern auch in anderen Bereichen, zum Beispiel in der Therapie oder Rehabilitation (siehe unser Blogartikel Kleine Helden ganz groß – Kinderpatienten in der Therapie durch Virtual Reality unterstützen). Denn Spiele bergen in motivationaler Hinsicht ein großes Potential, das dort besonders gut zu nutzen wäre. Doch nicht alle Menschen mit motorischen oder kognitiven Einschränkungen können an dieser Erfahrung teilhaben, wenn die sogenannte „Game Accessibility“ zu gering ist. Lassen Sie mich dies mit einem Beispiel verdeutlichen.
Wer wird nicht gerne in lebhafte und spannende Spielewelten versetzt, in denen sich hinter jeder Weggabelung ein neues Abenteuer verbirgt? Wer liebt es nicht, als Held mit besonderen Fähigkeiten durch die Welt zu reisen, wichtige Missionen zu erfüllen und sich Schurken in den Weg zu stellen? Als Showdown kommt es dann nicht selten zu einer dramatischen Kampfszene zwischen Held und Antagonist. Kurz bevor alles verloren scheint, kann unser Held nochmal die letzte Kraft aufbieten und den Schurken in einem letzten Quick Time Event doch noch besiegen (wie im Beispielbild). Doch halt – was, wenn das nicht klappt und der Held genau an dieser Stelle versagt?! In einer solchen Situation, in der die besagte Game Accessibilty nicht ausreichend gegeben ist, kann das Gameplay für Menschen mit motorischen Einschränkungen eine unüberwindbare Hürde darstellen.

Abbildung 1 – Gameplay-Szene aus der beliebten Videospielserie Uncharted. Hier ist ein Quick Time Event gefordert, um den Held Nathan Drake aus der brenzligen Situation zu befreien (der angezeigte Controller-Button ist so schnell wie möglich hintereinander zu drücken).
Eine solche Interaktion wie das mehrmalige schnelle Drücken einer bestimmten Taste ist für Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen wegen mangelnder Game Accessibility nur sehr schwer oder gar nicht auszuführen – obwohl sie vielleicht das „normale“ Gameplay mit Steuern der Spielfigur in moderatem Tempo und zeitunabhängig ausführbaren Interaktionen gut meistern können. Solche Quick Time Events sind beispielweise problematisch für Menschen mit Arthritis, Parkinson oder Verletzungen, die durch wiederholte Belastung entstehen (z.B. der weit verbreitete „Mausarm“). Diese Handicaps dienen nur als Beispiel, tatsächlich existiert noch eine Vielzahl weiterer Handicaps, die in der einen oder anderen Ausprägung zu einer eingeschränkten Motorik bei der Interaktion mit Videospielen führen können und auf die Game Accessibilty Einfluss haben.
Die meisten gängigen Videospiele basieren stark auf Schnelligkeit, fordern eine gute Hand-Augen-Koordination und stellen somit eine Herausforderung für Menschen mit motorischen Einschränkungen dar, denen eine zielgerichtete Finger- oder Handbewegung schwerfällt. Gerade Titel, die viel Wert auf das richtige Timing und das präzise Ausführen von Aktionen legen weisen somit eine schlechte Game Accessibility auf und können für solche Spieler zu einer echten Herausforderung werden. Dabei leidet eine große Anzahl der heutigen Spieler an verschiedenen Einschränkungen. Im Jahr 2018 wurden in Deutschland rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen verzeichnet. Leider existieren keine genauen Zahlen wie viele Spieler darunter sind – oder es eben gerne wären.
Forschungsprojekt MightyU
Auch in unserem aktuellen Forschungsprojekt „MightyU“ (Blog-Artikel), ist es das Ziel, im Sinne der Game Accessibility eine leicht zugängliche sowie adaptive und spielerische Trainingsumgebung für Kinder mit motorischen Einschränkungen zu entwickeln. Im Fokus stehen Kinder mit infantiler Cerebralparese (ICP), die durch eine frühkindliche Schädigung des zentralen Nervensystems mit motorischen Einschränkungen zu kämpfen haben (siehe dazu auch unseren offiziellen MightyU Blog).
Die Herausforderung ist hierbei, das Trainingsspiel für alle Kinder gleichermaßen zugänglich zu gestalten und eine gute Game Accessibility zu bieten, denn die Ausprägung von ICP ist oft höchst unterschiedlich. So können beispielweise nur die Arme oder Beine aber auch jeweils ein Arm und ein Bein oder alle vier Extremitäten betroffen sein. Auch die sonstige Motorik sowie die kognitive Belastbarkeit variiert bei ICP-Patienten sehr stark.
Aus diesem Grunde haben wir schon frühzeitig im Projekt, in der Phase der Anforderungsanalyse, mit vielen kleinen Patienten gesprochen, um zu erfahren, welche individuellen Fähigkeiten sie haben, aber auch welche Spiele sie spielen können und welche sie gerne spielen würden. Hierbei erfuhren wir, dass die Kinder up to date sind, was aktuelle Titel angeht, diese aber oft aufgrund ihrer motorischen Einschränkungen und einer schlechten Game Accessibility in den Spielen diese nicht selber bedienen können. Ihnen fällt es schwer, die gängigen Controller zu steuern. Auch sind die geforderten Interaktionen im Spiel häufig zu schnell und ein eigenes Tempo ist nicht bei jedem Titel möglich.
Die befragten Kinder sind somit auf Workarounds angewiesen, um dennoch an der Spielerfahrung teilhaben und mit Gleichaltrigen mitreden zu können. So erzählte uns eines der befragten Kinder, dass es oft seinem besten Freund beim Spielen von Batman Arkham Knight über die Schulter schaut. Durch das Angucken von Gameplay-Videos auf Youtube kann er seinem Freund sogar Tipps geben, an welchem Stellen etwas Geheimes versteckt ist oder wo der nächste Gegner wartet.
Ein weiterer Junge, der an unserem Interview teilnahm, spielt mit seinem großen Bruder zusammen. Jeder bedient dabei eine Hälfte des Playstation-Controllers.
Zusammengenommen sind dies kreative Herangehensweisen, um dennoch am Spielen von bekannten Titeln teilhaben zu können. Trotzdem ist dies natürlich nicht optimal und es wäre wünschenswert, wenn die Kinder das Spiel durch eine gute Game Accessibility auch vollkommen eigenständig bedienen könnten.
Neue Entwicklungen am Games-Markt
Dass Personen mit Handicap ebenfalls zur Community gehören, beginnen auch die großen Player der internationalen Spieleindustrie mehr und mehr zu verstehen und investieren zunehmend in die Entwicklung von Strategien zur Erhöhung von Game Accessibility ihrer Spiele und Plattformen. 2019 scheint für dieses Vorhaben ein Schlüsseljahr darzustellen, denn es wurden im Laufe des Jahres bereits viele Neuerungen zum Thema Game Accessibility vorgestellt oder angekündigt.
Ein Beispiel ist Microsofts Adaptive Controller. Mit einem mitreißenden Trailer wurde dieser während des diesjährigen Superbowl vorgestellt.
Der Adaptive Controller bietet verschiedene Personalisierungsmöglichkeiten für besonders hohe Game Accessibility wie extra große Buttons und Joysticks, die beliebig konfiguriert und den Controls des klassischen XBOX-Controllers zugewiesen werden können. Neben XBOX One Spielen kann der Controller auch am PC genutzt werden.
Im Forschungsprojekt MightyU erproben wir ebenfalls eine neuartige Art der Steuerung – das Spiel wird per Muskelaktivität und (Arm-)Position steuerbar sein. Mithilfe von EMG Sensoren, die an der Armmuskulatur angebracht sind, wird das Muskelpotential erfasst und in die Gameplay-Mechanik übersetzt. So wird es durch Anspannung und Entspannung der Muskeln in Kombination mit einer zielgerichteten Bewegung möglich sein, mit einem interaktiven Charakter zu interagieren und diesen durch eine Spielwelt zu steuern sowie Hindernisse zu überwinden. Diese innovative Umsetzung einer Spielsteuerung hat noch einen weiteren Zweck – und zwar sollen die Kinder während des Spielens ganz organisch trainieren können, ohne permanent die auszuführende Übung vor Augen zu haben. Der Einsatz von Biofeedback zur Unterstützung eines Trainings ist nicht neu – Inspiration holten wir uns in deutschen Biofeedback Zentren wie der Astrid Lindgren Schule in Kempten und der Schön Klinik in München. Innovativ ist jedoch der Einsatz dieser Methode als eigenständige Spielesteuerung.
Game Design für mehr Game Accessibility
Spiele mithilfe von Hardware zugänglich zu machen ist ein guter Anfang, reicht jedoch meistens noch nicht aus, um Menschen mit Einschränkungen optimal zu unterstützen. Viele Probleme können schon beim Game Design durch entsprechende Optionen und Designentscheidungen adressiert werden. Im Folgenden werden ein paar Beispiele genannt, mit der eine bessere Game Accessibility erreicht werden kann.
Die Steuerung des Spiels sollte personalisierbar sein, d.h. Tastenbelegungen sollten für den Spieler individuell einstellbar sein. In PC Spielen ist dies standardmäßig schon oft der Fall. Auf Konsole jedoch können Controls nur sehr eingeschränkt umgestellt werden. Eine wichtige Frage ist auch, ob ein Spiel mit nur einem Analogstick spielbar ist, für den Fall, dass der Spieler nur eine Hand zur Verfügung hat. Häufig kann hierfür ein Kamera-Assistenzmodus angeschaltet werden, der im Spiel dann die Kamerasteuerung übernimmt und die Verwendung des entsprechenden Analogstick überflüssig macht.
Einzelne Interaktionsmuster wie Quick Time Events oder das schnelle mehrmalige Drücken eines Buttons oder Controller-Knopfes sollten ausschaltbar sein. Tatsächlich bietet auch Uncharted 4 aus dem Eingangsbeispiel diese Möglichkeit, wie der folgende Screenshot zeigt.

Abbildung 2 – Gameplay-Optionen für mehr Game Accessibility am Beispiel von Uncharted 4.
Gerade in VR-Spielen, aber auch immersiven 3D-Spielen wie 1st Person Shootern, kommt es oft zu Simulation Sickness. Diese entsteht, wenn die Augen in feststehenden Situationen Bewegung „sehen“. Das Gehirn ist dann davon überzeugt, dass reale Bewegung vorherrscht und gibt diese Informationen an den Körper weiter, während aber dieser eben selbst keine Bewegung registriert hat. Die Folgen sind Schwindel und Übelkeit. Zudem können Personen mit kognitiver Benachteiligung mit der visuellen Komplexität der Ereignisse auf dem Screen überfordert sein. Problematisch sind visuelle Elemente wie helle Lichter, Blitze oder einfach, dass besonders viele Dinge zur selben Zeit zu sehen sind. Diese Features sollten in einem Spiel ebenfalls ausgeschaltet werden können.
Untertitel stellen für Spieler mit Einschränkungen ebenso oft ein Problem dar, wenn diese beispielweise schnell wieder verschwinden und visuell oder inhaltlich schwer zu verstehen sind. Hierbei ist es wichtig, den Text so deutlich und gut lesbar wie möglich zu gestalten. Es sollten nur knappe Sätze verwendet werden, zudem ist es wichtig, eine klare Schriftart ohne Serifen mit vergrößertem Zeilenabstand zu wählen. Zur besseren Kontrastierung sollte der Text auf einem soliden Hintergrund platziert werden oder eine schwarze Outline haben, damit eine gute Abhebung von der Spielewelt gegeben ist. Es gibt sogar Schriftarten, die besonders einfach zu lesen sind und speziell für Menschen mit kognitiven Einschränkungen entwickelt wurden, so wie die Font OpenDyslexic (ursprünglich entwickelt für Menschen mit Legasthenie).
Wichtig sind auch stressfreie Trainingsumgebungen im Spiel wie zum Beispiel ein Übungsmodus, in dem die Spieler ohne Druck alles ausprobieren und sich mit der Spielmechanik vertraut machen können. gameaccessibilityguidelines.com stellt ein detailliertes Regelwerk bereit, in dem Maßnahmen zur Erhöhung von Accessibility in Spielen beschrieben werden.
Und in der Praxis?
So viel also zur Theorie. Aber auch trotz sorgfältiger Berücksichtig der vielfältigen und komplexen Game Accessibility Guidelines kann es zu unvorhersehbaren Problemen beim Spielen kommen. Daher ist es von großer Bedeutung, schon während der Entwicklung mit Personen mit Handicap zu testen, um wertvolles Feedback einzuholen. Nur so können auch Aspekte motivationaler Art oder Wünsche offengelegt und in den weiteren Phasen des Designprozesses berücksichtigt werden. Im Forschungsprojekt MightyU verfolgen wir daher das Ziel, die verschiedenen Entwicklungsschritte kontinuierlich mit ICP-Patienten zu evaluieren und nachher ein Produkt zu schaffen, welches genau auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten ist. In den Gesprächen mit den Kindern stellten wir fest, dass die Kinder im Spiel gerne jemand anders wären. Jemand, der besonders stark ist und sie nicht an die Einschränkung denken lässt, mit der sie im Alltag permanent konfrontiert werden. Somit wählten wir als Genre für die Spielfigur ein Fantasy-Setting aus. Die Charaktere, die wir im Projekt gestalteten, sollten zudem eine „Superkraft“ ausdrücken, z.B. besondere Stärke, um die Kinder zu motivieren, sich trotz ihrer Einschränkung nicht schwach zu fühlen.

Abbildung 3 – Concept Art eines zielgruppengerechten Spiele-Charakters im Projekt MightyU.
Game Accessibility – ein aktuelles Thema
Fakt ist, dass das Bewusstsein für Menschen mit Handicap endlich in der Branche ankommt und wir uns als Designer und Entwickler in den nächsten Jahren somit auch immer mehr damit werden beschäftigen können. Daher ist jetzt ein guter Zeitpunkt, sich mit der Thematik rund um Game Accessibility auseinanderzusetzen.
Selbst der Möbelgigant IKEA wird voraussichtlich im nächsten Jahr eine Serie von Game-Controllern herausbringen, welche mit 3D-Druck individuell angefertigt werden.
Hierdurch erhofft sich IKEA auch Einblicke in die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen.
Wenn auch Sie Unterstützung in Fragen rund um Game Accessibility suchen, kontaktieren Sie uns gerne.