Der Start eines neuen UX Designer Rollenbildes.
Vieles ist passiert … und auch wieder nicht
Ich bin nun wirklich schon eine ganze Weile in der sogenannten UX Szene unterwegs. Ich leite als Inhaber und Geschäftsführer von Centigrade seit über 15 Jahren eines der erfolgreichsten UX Unternehmen in Deutschland. Aber seit ich vor 20 Jahren von der Videospiele-Entwicklung in den damals noch Usability und User Interface Design genannten Bereich gearbeitet habe, hat sich eigentlich gar nicht viel verändert. Klar – neue Tools sind entstanden und wieder verschwunden. Methoden wurden gehypt und dann durch angeblich noch bessere Methoden abgelöst. Die Endgeräte und Gestaltungsmöglichkeiten sind zahlreicher geworden und irgendwie redet auch keiner mehr vom Pixeln, weil sich das spätestens mit 4K Monitoren erledigt hatte.
Abgesehen davon, ist aus meiner Sicht aber vor allem viel Namenspflege und Umbenennung für ein und dasselbe Ziel betrieben worden. Beispielsweise war der Begriff Usability Engineering in der Community plötzlich lange nicht mehr so en vogue wie beispielsweise UX Research. Und plötzlich redeten einige von uns auch nicht mehr von Aufgabenanalyse, sondern von der Jobs to be done Methode. Selbst der einst vielzitierte Begriff User-Centered Design hechelt nun dem Begriff UX Design hinterher.
Usability vs. User Experience
Wurde hier wirklich nur reine Namenpflege betrieben oder stecken dahinter echte Unterschiede? Die Antwort ist wie so oft: „Sowohl als auch!“. Es gibt beispielsweise durchaus einen wichtigen Unterschied zwischen Usability und User Experience, daher darf man aufhorchen, wenn die eine Gruppe von Usability Engineering und die andere Gruppe von UX Research spricht.
Usability oder Gebrauchstauglichkeit ist kurz gefasst:
“Das Ausmaß, in dem ein Produkt oder Service durch bestimmte NutzerInnen in einem bestimmten Kontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen.”
User Experience oder das Nutzungserlebnis ist hingegen definiert als:
“Die Wahrnehmungen und Reaktionen von NutzerInnen vor, während oder nach der Interaktion mit einem Produkt oder Service.”
Wen die Quelle zu den hier etwas umformulierten Begriffsdefinitionen im Detail interessiert, der schlage hierzu am besten in der DIN EN ISO 9241, 210 Norm nach. Doch unabhängig von einzelnen Varianten der beiden Begriffsdefinitionen: Der größte Unterschied zwischen User Experience und Usability ist, dass User Experience offensichtlich erst im Kopf der NutzerInnen entsteht, unabhängig davon, ob diese gerade ein System bedienen oder nicht. UX ist damit also völlig subjektiv und irrational und entzieht sich der Kontrolle eines jeden anderen. Oder, um es anders auszudrücken:
Die Gedanken sind frei – und so ist auch die User Experience.
UX Designer: mit Hybris zum Scheitern verurteilt
Ist es da nicht eigentlich anmaßend, zu glauben, dass man als einzelnes Teammitglied UX gestalten könnte? Demzufolge wäre ein UX Designer ja ein Gestalter von Wahrnehmungen und Reaktionen, oder böse gesagt ein Mind Controller. In begrenztem Maße mag das sogar zutreffen, wenn z.B. durch Nudging und Gamification bestimmte Verhaltensmuster provoziert werden.
Dennoch finde ich diese Art von Definition nicht nur anmaßend, sondern sogar schädlich für die dahinterliegende, wundervolle Profession. Die Bezeichnung UX Designer als Beschreibung einer beruflichen Rolle tut nicht gut, weil er den UX Designer auf einen Sockel hebt, von dem er nur tief stürzen kann. Die Erwartungen, die durch eine solch unterschwellige Begriffs-Hybris entstehen, können nur enttäuscht werden.
Ein einzelner UX Designer hat meistens weder genug Wissen über die EndnutzerInnen noch ausreichend Kontrolle über den digitalen Produktentwicklungsprozess. Es ist deshalb leider davon auszugehen, dass UX Designer eben nicht genau die Wahrnehmungen oder Reaktionen bei den NutzerInnen hervorrufen, die sie sich während der Gestaltung eines Produktes oder Services blumig ausgemalt haben. UX entsteht also im Kopf der NutzerInnen nur durch eben jenes Erzeugnis, welches nach der Umsetzung des gesamten Entwicklungsteams hinten rausgepurzelt ist.
Wir müssen einsehen, dass die tatsächliche Kontrolle über die Qualität eines digitalen Produktes oder Services beim Entwicklungsteam als Ganzes liegt – nicht bei einzelnen UX Designern. Dabei gar die Kontrolle über die Wahrnehmungen und Reaktionen einzelner NutzerInnen zu haben, ist eine derzeit noch eine Illusion.
Was vom Zauber übrigbleibt…
Die fehlende Kontrolle des UX Designers über das Endprodukt oder gar die Reaktionen der NutzerInnen kann man auch in der modernen, agilen Software-Entwicklungsuniversen mannigfaltig beobachten: Ein ganze Armada von „smarten“ Software Engineers steht einer kleinen Gruppe von „kreativen“ UX Designern gegenüber. Und ein Software Engineer, der vor einer wenig Engineering-freundlichen Design-Spezifikation sitzt, macht im agilen, eigenverantwortlichen Entwicklungsteam nachvollziehbarerweise das, was er oder sie für gut, richtig und – vor allem – machbar hält. Wenn dabei eine gute User Experience hinten rausfällt, dann ist das mehr Glück als Design. Und da das Glück einem im professionellen Berufsalltag leider nur selten hold ist, wird aus dem Zauber des Anfangs (den sicherlich jeder UX Designer schon einmal während einer Neukonzeption erleben durfte) schnell die Ernüchterung des Endes:
Um ein etwas weniger heroisches dafür umso satirischeres Bild heranzuziehen: während sich die UX Designer im Hintergrund an ihren Gestaltungen die Finger verbrennen, drücken die Software Engineers im Vordergrund diejenigen UX Knöpfe, die sie für richtig halten. Und, hey – so schwer kann das mit diesem UX ja auch nicht sein, wenn man in der Lage ist, hunderttausende Zeilen funktionierenden Quellcodes zu überblicken, oder?
Danke Software Engineers!
Auch wenn es gerade ganz anders klingt: ich habe den allergrößten Respekt vor den Software Engineers. Sie sind in der Tat die letzten, die die Tür zu machen. Streichen wir die Satire, dann heisst das: Sie übernehmen häufig implizit die größte Verantwortung für die Qualität eines Produktes. Sie sind gezwungen, systematisch vorzugehen und sich kontinuierlich fortzubilden, da ihr digitales Produkt mit all seinen Bugs und Defekten sie sonst bis in den Schlaf verfolgen wird. Sie müssen sich harten Fakten stellen wie z.B. wieviel Prozent ihrer Arbeit mit Testcode abgedeckt ist oder wieviel Regression Bugs sie in welcher Zeit beheben konnten. Und der Compiler? Nun, der ist gnadenlos. Ein Tippfehler hier oder da und das Produkt tritt gar nicht erst vor die Augen der NutzerInnen.
Ohne Software Engineers gäbe es keine digitalisierte Welt und damit auch keine Notwendigkeit zur Gestaltung digitaler Produkte. Danke, Software Engineers dafür.
Dennoch glaube ich: der hier geschilderte Effekt, dass die letzte Person in einer Lieferkette sich oft auch am verantwortlichsten für das Endergebnis fühlt (oder von Außenstehenden so wahrgenommen wird), muss gemeinsam durchbrochen werden. Die Türen dürfen sich hinter den Software Engineers nicht automatisch für die UX Designer schließen – sie dürfen aber auch nicht offen stehen bleiben.
Wie kann das gelingen?
Developer, Developer, Developer
Wenn mich jemand fragt, ob ich mich mehr als Gestalter oder als Software Engineer fühle, dann antworte ich ohne zu zögern: „Developer!“. Moment mal… das beantwortet doch gar nicht die Frage, oder? Doch, das tut es. Ich möchte damit folgendes zum Ausdruck bringen:
Solange wir die Begriffe ‚Developer‘ oder ‚Entwickler‘ als synonym für den Software Engineer verwenden, wird sich nichts an der klaffenden Lücke zwischen Designern und Engineers ändern.
‚Entwicklung‘ schließt den Anfang ein
In der Videospiele-Industrie, sind alle Teammitglieder, die maßgeblich die Qualität des Spiels beeinflussen und entwickeln Developer. Die konkrete Disziplin eines Teammitgliedes ist dabei zweitrangig. Egal ob Character Artist, 3D Modeller, Storywriter, Level Designer, Lead Engineer, Game Tester, Scripter oder wer auch immer – jeder im Team trägt seinen winzigen Teil zur Gesamtentwicklung bei.
Schließlich entspringt der Begriff Entwicklung ja auch genau aus dem Anspruch, etwas von Anfang bis Ende systematisch zur Entfaltung zu führen. Auf UX bezogen bedeutet das: User Research, Konzeption oder Usability Testing aus dem Entwicklungsteam auszuschließen wäre sicherlich genau der falsche Weg. Im Gegenteil:
Wir UX Designer müssen uns als ‚Entwickler‘ ins Spiel bringen! Nur kollaborativ und gemeinsam mit allen anderen Team-Mitgliedern kann UX Design gelingen.
Mir liegt wirklich viel daran, dass immer mehr digitale Produkte und Services entstehen, die gemäß der geltenden UX Definition bei immer mehr Menschen angenehmere Wahrnehmungen und Reaktionen hervorrufen. Nicht zuletzt deshalb glaube ich zum Beispiel auch an die Kraft von Gamification. Ich liebe die magischen Momenten, die entstehen, wenn wir uns im produktiven Flow Zustand befinden. Dieser schmale Korridor zwischen Überforderung und Unterforderung bringt uns in energetischen Fokus und ermöglicht das völlige Abtauchen bei der Nutzung eines digitalen Produktes oder Services. Das ist allemal jede UX Anstrengung wert.
Ein neues UX Designer Rollenverständnis
Um diesen erstrebenswerten Flow-Zustand sowohl für das Team als auch für die NutzerInnen zu erreichen, müssen UX Designer eine neue Haltung gegenüber ihrer Berufung einnehmen und sich in erster Linie als Entwickler und damit als Teil eines größeren Ganzen verstehen, statt übermütig – oder zumindest wenig demütig – Konzepte und Designs mit sich selbst auszumachen.
User Experience beginnt mit der Fähigkeit zur Empathie und Perspektivenübernahme. Diese „Spezialkraft“ sollten gute UX Designer also ohnehin bereits innehaben. Sie sollten sie aber nicht ausschließlich für die NutzerInnen- gewinnbringend einsetzen, sondern eben auch für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Software Engineers.
Mehr Perspektivenübernahme, mehr gegenseitige Wertschätzung und mehr Empathie für das Handwerk anderer Disziplinen wird automatisch dazu führen, dass weniger Übergaben „über die Mauer“ passieren, sondern mehr Kollaboration, Introspektion und Inspiration im gesamten Entwicklungsteam aufkeimt.
Folgender Startentwurf eines ersten neuen UX Designer Rollenbildes soll euch als UX Designer dabei unterstützen, eine geschärfte Haltung gegenüber einer der schönsten Disziplinen der Welt einzunehmen und dadurch im Entwicklungsteam effektiver zu werden:
- Wir sind keine UX Designer. UX ist das, was im Kopf der NutzerInnen entsteht und sie steht und fällt rapide mit der Qualität der Umsetzung. Nur das Entwicklungsteam als ganzes kann es daher schaffen, diejenigen Wahrnehmungen und Reaktionen bei den NutzerInnen auszulösen, die wünschenswert sind. Lasst uns die Rolle UX Designer immer mit dieser Grundanschauung im Hinterkopf leben – solange zumindest, bis wir einen besseren Titel gefunden haben.
- Wir sind Entwickler. Wir sind integraler Teil des Entwicklungsteams und orientieren uns daher daran, was das Engineering Team zu leisten im Stande ist. Wir müssen unsere Konzepte gemeinsam mit den Software Engineers pro Umsetzbarkeit gestalten. Dazu benötigen wir sehr gutes technisches Verständnis und müssen die Sprache der Software Engineers – zumindest gebrochen – sprechen, lesen und schreiben können.
- Es gibt keine ‚Handoffs‘ zu den Software Engineers. Kein Software-Entwicklungsprozess ist linear. Wir werfen Konzepte daher nicht über die Mauer, sobald wir glauben fertig zu sein. Unsere Arbeit fängt gerade erst an, wenn die ersten Umsetzungsteile bereits entstanden sind und sie setzt sich kontinuierlich in kleinen gemeinsamen Abstimmungsschleifen fort. Wir verstehen die einzelnen Mitglieder des Entwicklungsteam als die Finger einer gemeinsamen Hand und nicht als zwei Hände verschiedener Personen.
- Wir tragen Verantwortung für unsere Konzepte. Wenn wir ein Konzept in die Welt setzen, dann bedeutet das oft jede Menge Arbeit für eine ganze Reihe von Software Engineers. Wir müssen hierbei verbindlich und präzise sein, denn alle Konzepte, die wir spät revidieren oder ergänzen, verlangen den Software Engineers extreme Anstrengungen ab und erhöhen zudem deren technische Schulden. Im Zweifel fragen wir den Software Engineer lieber einmal mehr statt einmal weniger nach seiner Einschätzung zu Konzept- oder Prototypen-Änderungen.
- Wir sind Domänen-Profis und Informations-Modellierer. Wir wissen im Detail und verbindlich, welche Informationseinheiten (sogenannte Entitäten) in unserem Konzept welche Bedeutung haben, wie sie miteinander in Beziehung stehen, wie sie sich voneinander abgrenzen oder zu welchem Zeitpunkt sie für bestimmte NutzerInnen in welchen Kontexten relevant sind. Wenn nicht wir, wer soll es dann wissen? Wir modellieren kontinuierlich benötigte Informationseinheiten und begleiten sie auf ihrer Reise durch die Software-Entwicklungspipeline, wir hegen und pflegen sie und schärfen sie regelmäßig, evolutionär und in Absprache nach.
Mitmachen und Neudenken
Ich nenne hier nur die ersten 5 Bausteine eines später sicher umfänglicheren UX Designer Rollenbildes. Es handelt sich dabei natürlich um die Aspekte, die mich persönlich am meisten bewegen. Ich bin aber der Überzeugung, dass es deutlich mehr Punkte gibt, die das UX Designer Rollenbild schärfen und modernisieren können.
Ich möchte daher an dieser Stelle die Diskussion eröffnen und euch einladen, weitere Gedanken zu ergänzen – egal ob ihr der gleichen Grundüberzeugung wie ich seid oder meinen Ausführungen eher ‚konstruktiv kontrovers‘ gegenübersteht. Aus euren gesammelten Werken, werde ich dann nach und nach weitere Versionen eines neuen UX Designer Rollenbildes destillieren. Ich bin gespannt auf euer Feedback.
Lasst uns gemeinsam die Rolle UX Designer modernisieren, um die digitalisierte Welt von Morgen mit besseren Produkten und Services ein kleines Stück besser zu machen.
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