Sie gelten als intuitiv, ihre Bedienung leicht zu erlernen – Touchscreens. Ist es doch sehr viel natürlicher für den Menschen, den Gegenstand seines Interesses direkt mit dem Finger auf dem Bildschirm zu berühren, anstatt den Umweg über die Maus zu gehen. Abgesehen von der deutlich leichteren Hand-Augen-Koordination stellen Touchscreens durch die Verschmelzung von Eingabe und Ausgabe in einem Element eine direkte und damit äußerst elegante Bedienlösung dar.
Doch wie viel Frust und Ärger sie trotz aller Vorteile erzeugen können, dürfte jeder von uns schon einmal selbst erlebt haben. Wenn man zum Beispiel anstatt das Adressbuch nach unten zu scrollen einen Kontakt auswählt und anruft, wenn man ein Wort fünfmal eingeben muss, weil man jedes Mal den falschen Buchstaben trifft oder Auswahl- und Beenden-Button so nah beieinander liegen, dass man Angst hat, versehentlich den falschen zu drücken, hätte ein Vertippen doch genau den gegenteiligen Effekt. Es wäre ja auch zu schön um wahr zu sein, würden Touchscreens keine neuen Usability-Probleme mit sich bringen. Gerade die Bedienung von Desktop-Betriebssystemen wie Windows 7 oder OS X via Touch zieht dabei eine Reihe von Problemen mit sich.
Buttongröße – Einfluss auf Genauigkeit und Geschwindigkeit
Eine in den Beispielen angedeutete Schwierigkeit ist die richtige Größe von Buttons. Auf der Suche nach einem Kompromiss zwischen Platzmangel und Bedienfreundlichkeit kann Fitts` Gesetz (1954) einen ersten Anhaltspunkt bieten. Es handelt sich um den sehr reliablen und oft untersuchten Effekt, dass nahe große Ziele schneller erreicht werden als entfernte kleine Ziele. So kann zum Beispiel genau berechnet werden, wie viel durch Verkleinern eines Buttons und der daraus resultierenden höheren Genauigkeit mit der getippt werden muss, an Geschwindigkeit verloren wird („speed-accuracy-trade-off“). Natürlich kann man zu Gunsten der Geschwindigkeit die Buttons etwa eines Smartphones nicht beliebig groß gestalten, sodass man zu einer anderen Lösung, der sogenannten Kompensation, greift.
Beispielsweise behält ein Programm während der Texteingaben den semantischen Kontext im Auge, ersetzt fehlerhafte Buchstaben durch die Richtigen oder bringt sie in die korrekte Reihenfolge (bspw. dsa ? das). Noch weiter gingen Patrick Baudisch und Christian Holz: Nach ihrem Modell (The Generalized Perceived Input Point Model, 2010) kann Treffungenauigkeit von Usern durch Kontextfaktoren wie Neigungsgrad und Orientierung des Fingers sowie dem mentalen Modell, das der Nutzer von der Bedienung hat, erklärt werden. Aufbauend auf diesem Modell entwickelten sie einen Prototyp, der diese Faktoren kompensierte und so eine Treffgenauigkeit von 95% auf einem 4,3 mm-Button erreicht. Ein beeindruckendes Ergebnis, schwanken die bisher ermittelten Minimalgrößen bei vergleichbarer Treffgenauigkeit doch zwischen 10,5 mm und 26 mm. Jedoch werden die recht komplexe Hardware und die Verzögerung nach jeder Eingabe wohl dafür sorgen, dass es noch eine Weile dauert, bis diese Technologie zum Alltag wird.
Mikro-Interaktionen – Dilemma zwischen alten Interaktionsformen und neuer Technik
Um den Problemen auf den Grund zu gehen, muss man auf Mikro-Interaktionsdesign-Ebene gehen. Touchscreens eröffnen nur eine beschränkte Reihe von Bedienmöglichkeiten– es gibt nun mal nur die (oder bei Single-Touch, den) Finger. Andererseits existiert oft der Wunsch, vom Desktop gewohnte, meist Maus-gesteuerte Funktionen auf Touchscreens zu übertragen (siehe Blogartikel Maus gegen Touch). Bei diesen Funktionen, handelt es sich z.B. um das Öffnen eines interaktiven Kontextmenüs per Rechtsklick oder aber um das Anzeigen eines Tooltips, welcher nähere Informationen zu demjenigen Element liefert, über dem sich gerade die Maus befindet (der sogenannte „Hover“ Zustand).
Beide Funktionen (Kontextmenü und Tooltip) stellen zumindest Desktop Entwickler vor ein Dilemma, denn einerseits ist es nicht möglich, Rechtsklick und Hover auf Touchbedienung direkt zu übertragen, andererseits würde das Wegfallen der beiden Funktionen Kontextmenü und Tooltip einen empörten Aufschrei bei Nutzern auslösen, die sich daran seit langem gewöhnt haben.
Die Bedeutung von Kontextmenüs und Tooltips will natürlich niemand abstreiten, ist es doch gerade für unerfahrene Nutzer hilfreich, Kontextinformationen zur Verfügung gestellt zu bekommen, auch auf wenig Platz. Doch wie kann man die genannten Funktionen am besten auf Touchscreens umsetzen?
iOS und OS X
iOS als schlanker, touch-optimierter Bruder von OS X hat die eben genannten Probleme der Funktionen-Altlast nicht, da Apple konsequent mit alten Traditionen gebrochen hat. OS X auf Touchscreens, hat bezüglich Kontextmenüs gegenüber Windows 7 die Nase vorn da Apple die Interaktionsmöglichkeiten von OS X per se stärker auf den reinen Linksklick hin optimiert hat. So wurde der fehlende Rechtsklick schon immer durch die Indirektion über zusätzliche Buttons oder den Longklick gelöst, was zwar eine zusätzliche Mikro-Interaktion für den Nutzer darstellt, zumindest aber konsistent auf eine Einfinger-Touchbedienung übertragen werden kann. Über das Anzeigen von Tooltips per Touch stolpert jedoch auch Mac OS X.
Windows 7
Windows 7 bemüht sich, den Rechtsklick zum Öffnen eines Kontextmenüs durch einen sogenannten „Longtap“ zu kompensieren. Eine Lösung, die offensichtlich aus den damals noch begrenzten Möglichkeiten der Single-Touchscreens erwachsen ist, jedoch leider zu gewissen Usability-Problemen führt. Zum Beispiel stört die Verzögerung im Arbeitsfluss und das Wegfallen des visuellen Feedback für den “Gedrückt“ Status: das System muss schließlich erst feststellen, ob die Intention des Nutzers ein Einfachtapp oder ein Long-Tap ist. Denkbar schlecht bei einer Bedienoberfläche, der ohnehin schon das haptische Feedback fehlt und die so zu Unsicherheit führt. Ganz abgesehen davon, dass der Longtap wesentlich größere Ähnlichkeiten mit dem Hover aufweist und so eine viel passendere Interaktion für den Tooltip abgegeben hätte (Windows 7 stolpert über den Tooltip also ähnlich wie OS X). Als eine intuitive Interaktion für die Funktion des Kontextmenüs wäre dagegen ein Zwei-Finger-Tapp vorstellbar, weil das Aufsetzen des zweiten Fingers analoger zum (Rechts-)Klicken mit dem zweiten Finger ist. Diese Lösung setzt natürlich den Einsatz eines Multitouch-fähigen Screens voraus.
Windows 8
Bei Windows 8 wird die Lösung in einer Geste („Swipe Down“ Windows 8 User Experience Guidelines, Kapitel: Touch, Commanding and Controls) gesucht, es bleibt abzuwarten, ob sie zu leicht oder zu schwer ausgelöst und damit zu einem Usability-Problem wird.
Mikro-Interaktionen bei unterschiedlichen Betriebssystemen und deren Resultat | „Von Altlasten gezeichnet“ | „Mit Mut zu Neuem“ | ||
Windows 7 | OS X | Windows 8 | iOS | |
Linksklick | meist Objektselektion oder Auslösen eines Buttons | meist Objektselektion oder Auslösen eines Buttons | direktes „Auslösen“ eines Elementes | – |
Ein-Finger-Tap | meist Objektselektion oder Auslösen eines Buttons | meist Objektselektion oder Auslösen eines Buttons | direktes „Auslösen“ eines Elementes | meist Objektselektion oder Auslösen eines Buttons |
Rechtsklick | meist Kontextmenü | weitestgehend vermieden, aber wenn meist Kontextmenü | Kontextmenü/Action Bar | – |
Zwei-Finger-Tap | z.B. alternativer Zoom | Nicht anwendbar (außer auf Touchpad) | Nicht anwendbar, dafür: „Swipe Down“ Geste zur Objektselektion für Windows 8 Apps | – |
Hover | Tooltip | Tooltip | Tooltip | – |
Longtap („Press and hold“) | Kontextmenü | weitestgehend vermieden, aber wenn meist Kontextmenü | Tooltip oder Kontextmenü (zum Lernen) | Kontextmenü(auch durch Indirektion erreichbar) |
Alternative Lösungsansätze
Um dem Wunsch nach Umstellung auf Touchscreens ohne Verlust von Funktionen gerecht zu werden, lohnt es sich also im Detail über mögliche unterschiedliche Mikro-Interaktionen nachzudenken. Eine recht gute noch nicht in vollem Potential ausgereizte Möglichkeit stellt dabei eventuell der Zwei-Finger-Tap dar. Das Aufsetzen eines zweiten Fingers, ohne dass dieser einen bestimmten Punkt zu treffen hat, sollte einen angenehmen Arbeitsfluss erlauben. Gleichzeitig ähnelt er keiner Geste oder anderen Interaktion, die er ungewollt auslösen könnte (so lange sich die beiden Finger nicht von Ihrem ursprünglichen Ort wegbewegen) . Wie schon weiter oben im Text erwähnt ähnelt der Zwei-Finger-Tap in erster Linie dem Rechtklick, sodass er sich für das Öffnen von Kontextmenüs eignen würde.
Technische Restriktionen
Für eine reibungslose technische Umsetzung wäre natürlich noch die eine oder andere Sache zu klären: Beispielsweise wäre ein Timer von Nöten, um das ungewollte Auslösen eines Elements durch die minimale Verzögerung zwischen dem Aufsetzen der beiden Finger („Fingerreihenfolge“) zu verhindern. Weiterhin ist der Zwei-Finger-Tap natürlich nur eine Lösung für Multitouch-Screens, denn mindestens zwei Berührungen müssen zur gleichen Zeit erkannt werden. Dabei muss der Touchscreen in der Lage sein, zwei sehr dicht benachbarte Finger auch wirklich als zwei separate Punkte und nicht als einen dicken Finger aufzufassen, der dann ja fälschlicher Weise als einfacher Linksklick interpretiert werden würde („Fingerpositionen“).
Das offensichtlichste Problem eröffnet sich jedoch durch die oben erwähnte Buttongröße. Oft sind Buttons ja schon zu klein, um sie mit einem Finger bequem zu bedienen. Wie schwierig wird es erst mit zwei Fingern?
Strategien zur Bestimmung der Trefferfläche
Um dieses Problem zu lösen, könnte man beim Zwei-Finger-Tap die Trefferfläche eines Elements auf eine andere Art und Weise berechnen. Im Normalfall gilt ein UI Element als “getroffen“, wenn der registrierte Touchpunkt (oder Mauspointer) innerhalb der visuellen Grenzen des UI Elementes liegt. Wenn aber zwei Berührpunkte registriert werden, wäre es möglich, zwischen ihnen eine Verbindungslinie zu ziehen, über die das getroffene Element ermittelt wird. Es werden die prozentualen Anteile der Überschneidung dieser Linie mit den umliegenden Bedienflächen berechnet, und das Bedienelement in dem die größte dieser Überschneidungen existiert wird ausgewählt.
Die folgenden Grafiken veranschaulichen auf eine schematische Weise die möglichen Fingerpositionen/-reihenfolge und ausgelösten Bedienelemente je nachdem wann ein UI Element als „getroffen“ gewertet wird. Es werden vier verschiedene Fingerpositionen und drei Umsetzungsstrategien unterschieden.
Die Hypothese ist, dass diese Art der Verrechnung einen positiven Einfluss auf die User Experience hat. Da es nicht mehr nötig ist, einen Punkt genau zu treffen, sondern man nur ungefähr auf die Fläche zielen muss und selbst beim Berühren einer andere Bedienflächen keine Falscheingabe entsteht, sollte sich ein bemerkbarer Gewinn an Bediengeschwindigkeit ergeben (siehe oben: Fitts` Gesetz). Ein Effekt, der sich sehr positiv auf das Vertrauen in die Kontrolle über das Gerät und somit auch auf die gesamte User Experience auswirkt.
Fazit
Maus-gesteuerte Funktionen lassen sich also nicht einfach auf Touchscreens übertragen, es gilt Dinge wie technologische Möglichkeiten oder die notwendige Trefferfläche zu beachten um zufriedenstellende Ergebnisse in Bezug auf Usability und User Experience zu erzielen. Eine mögliche Mikro-Interaktion zur Übertragung der Funktionen ist der oben vorgestellte Zwei-Finger-Tap, der jedoch eine spezielle Berechnung der Trefferfläche eines Elements erfordert. Ließe sich dieser Interaktionsvorschlag einsetzen um beispielsweise das Auslösen des Kontextmenüs oder Tooltips auf Desktop Betriebssystemen zu steuern? Könnte er ein potentieller neuer Rechtsklick werden? Oder vielleicht eine ganz neue Funktion auslösen? Sicherlich muss er erst einmal ausführlich auf seine Tauglichkeit hin geprüft werden. Gegen seinen Einsatz spricht die – wenn auch etwas neuere –Altlast des Longtaps, der bisher bei Touchscreens als Rechtsklick diente und an den man sich inzwischen gewöhnt hat.
Und auch hier sollte uns die Vergangenheit lehren, dass das Mitschleppen von Altlasten fast immer zu suboptimalen UIs führt (siehe oben: Win7 und OS X), während ein mutiges In-Frage-Stellen oder sogar Beschneiden alter Ansätze meist zu wesentlich besseren Ergebnissen führt(siehe oben: Windows 8 und iOS). Windows 8 hat dabei weiterhin das Problem, dass auch Desktop Anwendungen im Touchumfeld vollständig interaktionsfähig bleiben müssen. Das Brechen mit Altlasten passiert zur Zeit. also nur partiell für die touch-optimierten sogenannten „Windows 8“ Apps. Es bleibt abzuwarten, ob mit der just bevorstehenden offiziellen Einführung von Windows 8 die Begeisterung für das Touchen auf dem Desktop ausgelöst werden kann oder nicht.
Literaturangaben:
- Holz, C. and Baudisch, P. (2010). The Generalized Perceived Input Point Model and How to Double Touch Accuracy by Extracting Fingerprint. CHI 201,0 April 10–15, 2010
- Fitts, P.M. (1954). The information capacity of the human motor system in controlling the amplitude of movement. Journal of Experimental Psychology, 47, 381-391.
- Hall, A.D., Cunningham, J.B., Roache, R.P., and Cox, J.W. (1988). Factors affecting performance using touchentry systems: Tactual recognition fields and system accuracy. Journal of Applied Psychology, 4, 711–720.
- Vogel, D. and Baudisch, P. (2007). Shift: A Technique for Operating Pen-Based Interfaces Using Touch. In Proc. CHI’07, 657–666.
- Windows 8 User Experience Guidelines (nicht mehr online verfügbar)
- iOS Human Interface Guidelines
- http://developer.apple.com/library/ios/DOCUMENTATION/UserExperience/Conceptual/MobileHIG/MobileHIG.pdf
- Windows User Experience Interaction Guidelines for Windows 7 and Windows Vista
Alle genannten Marken oder eingetragene Marken sind Eigentum der jeweiligen Markeninhaber.