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Die Zahl Sieben ist nicht magisch, aber kognitive Kapazitätsgrenzen sind echt und relevant (Teil 2)

René Liesefeld
21. Februar 2012

Der erste Teil dieses Artikels hat aufgezeigt, dass die falsche Doktrin, Menü-Einträge, Aufzählungspunkte usw. auf sieben zu beschränken auf einer gängigen Fehlinterpretation eines Artikels von Miller (1956) beruht. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass Kapazitätsgrenzen zwar tatsächlich existieren, diese werden aber momentan eher auf etwa vier Elemente geschätzt. Neuerdings wird, als Reaktion auf die Verbreitung einer allzu vereinfachenden Darstellung der „magischen Zahl Sieben“, die entgegengesetzte Auffassung populär: Ihre Verfechter argumentieren, dass es eigentlich keine zuverlässigen Kapazitätsgrenzen gibt oder dass – wenn es solche gibt – diese keine Relevanz für das UI Design haben. Wenn diese Kritiker Recht hätten, wäre auch die neue „magische“ Zahl 4±1 relativ unwichtig für UI Designer. Diese Position schüttet allerdings das Kind mit dem Bade aus; obwohl Misstrauen gegen magische Zahlen und andere allzu starke Vereinfachungen natürlich angebracht ist, sind Kapazitätsgrenzen eine psychologische Tatsache und für das UI Design relevant. Wie so oft, liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte…

Mehr als nur Arbeitsgedächtnis

Ein gängiges Gerücht besagt, dass Forschung zur Arbeitsgedächtniskapazität deshalb irrelevant für das UI Design ist, weil Nutzer alles Wichtige direkt vor Augen haben und deshalb die Bedienung von UIs nicht von Gedächtnisfunktionen abhängig ist.
Erstens ist bei der Benutzung eines UIs das Aufrechterhalten von Informationen im Gedächtnis immer dann notwendig, wenn aufgabenrelevante Informationen über mehrere Screens verteilt sind oder von Pop-ups überdeckt werden. Auch wenn solche Situationen möglichst vermieden werden sollten (siehe Gócza, 2010; Rhodes, 1998), sind sie manchmal leider unvermeidbar.
Zweitens spielt das Arbeitsgedächtnis eine sehr zentrale Rolle im kognitiven Apparat des Menschen und beeinflusst daher viele Aspekte des alltäglichen Lebens. Zum Beispiel hängen Arbeitsgedächtniskapazität und allgemeine Intelligenz stark zusammen (e.g., Kyllonen & Christal, 1990; Conway, Kane, & Engle, 2003). Wer hohe Leistungen in Arbeitsgedächtnisaufgaben erzielt, erzielt diese auch in Intelligenztests. Arbeitsgedächtnistraining kann – unter bestimmten Umständen – anscheinend sogar Intelligenz verbessern (z.B. Jaeggi, Buschkuehl, Jonides, & Perrig, 2008). Eine lange Forschungstradition hat gezeigt, dass allgemeine Intelligenz wiederum stark mit solch wichtigen Themen zusammenhängt wie Erfolg in der Ausbildung und im Beruf sowie Gesundheit und Lebenserwartung, um nur einige zu nennen. Die viel jüngere Forschung zu Arbeitsgedächtniskapazität deutet auf ähnliche Zusammenhänge mit diesen Lebensaspekten hin. In Anbetracht dieser Bedeutsamkeit von Arbeitsgedächtniskapazität; warum sollte ausgerechnet die Benutzung von UIs (die im Wesentlichen Informationsverarbeitung ist) von diesem Engpass in der Informationsverarbeitung unbeeinflusst sein?
Drittens liegt die Begrenzung möglicherweise nicht in der Menge an gespeicherten Informationen, sondern darin, wie vielen Elementen eine Person gleichzeitig Aufmerksamkeit widmen kann. Wenn dem so ist, ist die Anzahl an Elementen (wie Menü-Einträge und Aufzählungspunkte) auf einem Screen selbst dann relevant, wenn gar keine Informationen im Gedächtnis gehalten werden müssen. In Einklang mit dieser Vermutung wurden ähnliche Kapazitätsgrenzen wie im Arbeitsgedächtnis für mehrere Aufgaben gefunden, die erst einmal nicht direkt etwas mit dem Behalten von Informationen zu tun haben. Zwei der interessantesten dieser Aufgaben sind Enumeration und Multiple Object Tracking.
Bei der Enumeration-Aufgabe wird eine Menge von zufällig über den Screen verteilten Objekten gezeigt und Teilnehmer müssen deren Anzahl schätzen. In einer Version werden die Objekte für eine sehr kurze Zeit (normalerweise < 1s) gezeigt und die Genauigkeit der Schätzung gemessen. In einer anderen Version bleiben die Objekte sichtbar und die Zeit, bis zur richtigen Antwort wird gemessen. Schätzungen sind für eine kleine Anzahl an Objekten (ca. 4) schnell und exakt (ein Vergleich der drei Bilder unter diesem Absatz vermittelt hiervon einen Eindruck). Wenn die Anzahl über diesen Subitizing-Bereich von etwa vier Objekten steigt, steigen sowohl Antwortzeiten als auch Fehlerraten (z.B. Cowan, 2001). Da die meisten Menschen nur eine sehr begrenzte Anzahl an Objekten subitizen (also unmittelbar deren Anzahl erkennen) können, sind sie normalerweise beeindruckt, wenn Rain Man (Johnson & Levinson, 1988) im Bruchteil einer Sekunde die korrekte Anzahl an Zahnstochern nennt (246), die sein Bruder auf den Boden schüttet.

3 Stifte 6 Stifte viele Stifte

Eine weitere interessante Aufgabe mit einer ähnlichen Kapazitätsgrenze ist das Multiple Objekt Tracking. In dieser Aufgabe bewegen sich mehrere identische Objekte (z.B. weiße Scheiben) für einige Zeit über den Bildschirm. Am Anfang eines Durchgangs werden einige Scheiben (die Zielobjekte) markiert. Nachdem diese Markierung verschwindet, sind die Zielobjekte für den Rest des Durchgangs nicht mehr von den anderen Scheiben (Störobjekte) unterscheidbar. Alle Objekte fangen dann an, sich zufällig und unabhängig voneinander über dem Bildschirm zu bewegen. Ähnlich wie beim Hütchenspiel („Hütchenspiel“, 2012) müssen Teilnehmer ihre Aufmerksamkeit auf die Zielobjekte richten und deren Bewegung dann verfolgen. Nachdem die Bewegung beendet ist, ist die Aufgabe, die Zielobjekte aus den ununterscheidbaren Scheiben auszuwählen. Üblicherweise können Leute maximal etwa vier Zielobjekte erfolgreich verfolgen (Cowan, Morey, & Chen, 2007; Scholl, 2009). Beispiele für die MOT-Aufgabe finden sich hier.
Befunde aus der Enumeration-Aufgabe oder dem Multiple Objekt Tracking haben kaum direkte Implikationen für das UI Design (ausgenommen UIs für einige spezielle Anwendungsfälle wie z.B. zur Luftverkehrskontrolle). In den meisten Fällen ist es nicht notwendig schnell und genau Objekte zu zählen oder mehrere sich unabhängig bewegende Objekte zu verfolgen. Allerdings zeigen diese Befunde, dass die gemessenen Kapazitätsgrenzen nicht nur für Gedächtnisprozesse gelten, sondern möglicherweise auch für die noch zentraleren Aufmerksamkeitsprozesse, die natürlich auch eine wichtige Rolle bei der Bedienung von UIs spielen.
Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit auf mehrere Elemente gleichzeitig zu richten, ist von entscheidender Bedeutung wenn mehrere Elemente zusammen verarbeitet werden müssen, das heißt, wenn sie gleichzeitig erfasst werden müssen. Wenn zum Beispiel ein Wert über einen Schieberegler beeinflusst wird, muss der Nutzer sowohl den Regler, den er bewegt, als auch den sich verändernden Wert beachten. Dies ist eine Voraussetzung dafür, die Bewegung beenden zu können sobald der gewünschte Wert erreicht ist. Noch mehr Elemente müssen gleichzeitig verarbeitet werden, wenn es um wechselseitige Abhängigkeiten des manipulierten Wertes mit anderen Werten geht. Um diese Abhängigkeiten zu verstehen, müssen alle zusammengehörigen Werte gleichzeitig mit Aufmerksamkeit belegt werden (s. z.B. das untenstehende Video).

Implikationen für das UI Design

Dieser Artikel hat aufgezeigt, dass Kapazitätsgrenzen in der Informationsverarbeitung existieren und dass diese relevant für eine breite Palette an Aufgaben sind. Das beschwört regelrechte Horror-Szenarien herauf: Müssen wir aufgrund dieser Befunde eine noch strengere Einschränkung auf eine „magische“ Zahl Vier vornehmen, wenn es um Einträge in einem Menü oder Aufzählungspunkte geht? Natürlich nicht! Es lassen sich aus den hier zusammengefassten Forschungsergebnissen allerdings mindestens zwei Empfehlungen für das UI Design im Allgemeinen ableiten.
Erstens ist es sicherlich keine gute Idee, ein System zu gestalten, das es dem Nutzer abverlangt, mehr als vier Informationen im Arbeitsgedächtnis zu halten. Das ist der Fall wenn aufgabenrelevante Informationen über mehrere Screens verteilt sind oder durch Pop-ups überdeckt werden. Solche unglücklichen Design-Entscheidungen haben ihren Ursprung häufig in schlechten Anforderungsanalysen. Insbesondere passiert es Designern mitunter, dass sie sich der Beziehungen zwischen den verschiedenen Elementen oder der Notwendigkeit, dass der Nutzer diese Abhängigkeiten auch verstehen kann, nicht bewusst sind1. Arbeitsgedächtnisbegrenzungen werden auch dann problematisch, wenn der Designer als Experte in einer Domäne mehrere Informationen als einen Chunk behandelt, die vom Nutzer (der u.U. kein Experte in der jeweiligen Domäne ist) separat verarbeitet werden müssen. Die Angaben „Hochsaison“ oder „Nebensaison“ in Preistabellen sind zum Beispiel für den Reisevermittler leicht zu entpacken, verlangen aber vom Kunden, dass er die entsprechenden Daten im Arbeitsgedächtnis aktiv hält. Der UI Designer empfindet in solchen Fällen bei der Bedienung des UIs eine viel niedrigere Arbeitsgedächtnisbelastung als der eigentliche Nutzer. Solche Fehler sollten allerdings in gut geplanten Usability Tests mit repräsentativen Nutzern schnell offensichtlich werden. Wenn die Arbeitsgedächtnisbelastung zu groß wird, begehen Nutzer nahezu zwangsläufig viele Fehler und beschweren sich über das zu komplexe System.
Zweitens ist es auch bezüglich Menüs und Aufzählungen von Vorteil, die Menge dargebotener Informationen so gering wie möglich zu halten. Dieses Ziel steht allerdings im Konflikt mit dem viel wichtigeren Ziel, die Menge an notwendiger Navigation und Arbeitsgedächtnisbelastung gering zu halten, indem alle für die aktuelle Aufgabe relevanten Informationen auf einem Screen gezeigt und Menü-Strukturen flach gehalten werden (see Gócza, 2010; Rhodes, 1998). Der kritische Unterschied zum erstgenannten Fall ist, dass normalerweise keine Notwendigkeit besteht, Aufmerksamkeit auf alle Menü-Einträge oder Aufzählungspunkte gleichzeitig zu richten. Eine Überschreitung der Kapazitätsgrenzen der Nutzer führt hier nur dazu, dass es etwas länger dauert, bis die relevanten Informationen oder Optionen gefunden werden. Was die experimentelle Psychologie dazu beitragen kann, diesen Suchprozess zu vereinfachen und zu beschleunigen, ist das Thema eines demnächst folgenden Blog-Artikels.

1Chuck Norris hat diesen Fehler noch nie begangen.

Literatur

  • Conway, A. A., Kane, M. J., & Engle, R. W. (2003). Working memory capacity and its relation to general intelligence. (12), 547. doi: 10.1016/j.tics.2003.10.005
  • Cowan, N. (2001). The magical number 4 in short-term memory: A reconsideration of mental storage capacity. Behavioral and Brain Sciences, 24(1), 87-185. doi: 10.1017/S0140525X01003922
  • Cowan, N., Morey, C.C., & Chen, Z. (2007). The legend of the magical number seven. In S. Della Sala (Hrsg.), Tall tales about the mind & brain: Separating fact from fiction. (S. 45-59). New York, NY: Oxford University Press.
  • Gócza, Z. (2010). Myth #23: Choices should always be limited to 7+/-2. Abgerufen von http://uxmyths.com/post/931925744/myth-23-choices-should-always-be-limited-to-seven
  • Jaeggi, S.M., Buschkuehl, M., Jonides, J., & Perrig, W.J. (2008). Improving fluid intelligence with training on working memory. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 105(19), 6829-6833. doi: 10.1073/pnas.1103228108
  • Johnson, M. (Produzent), & Levinson, B. (Regisseur). (1988). Rain Man [Film]. United States: United Artists.
  • Kyllonen, P. C., & Christal, R. E. (1990). Reasoning ability is (little more than) working-memory capacity?!. Intelligence, 14(4), 389-433. doi: 10.1016/S0160-2896(05)80012-1
  • Miller, G.A. (1956). The magical number seven, plus or minus two: Some limits on our capacity for processing information. Psychological Review, 63(2), 81-97. doi: 10.1037/h0043158
  • Rhodes, J.S. (1998, November 23). Human memory limitations and web site usability. Abgerufen von http://webword.com/moving/memory.html
  • Scholl, B. J. (2009). What have we learned about attention from multiple-object tracking (and vice versa)?. In D. Dedrick & L. Trick (Hrsg.), Computation, cognition, and Pylyshyn (S. 49-77). Cambridge, MA: MIT Press.
  • Hütchenspiel. (29. Januar 2012). In Wikipedia. Abgerufen am 15. Februar 2012 von http://de.wikipedia.org/wiki/Hütchenspiel

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